DAS IMPERIUM STRULLT ZURÜCK

Aus des Schreibers Albtraumkiste: Nehmen wir einfach zwei von JG Ballards Dikta ernst, „wir brauchen heute Fiktion, um die Welt zu verstehen” und „schreibe, was dich umtreibt“, und zimmern uns mal schnell einen völlig fiktiven Verschwörungsthriller.

Es war einmal neulich bei einem großen deutschen Sender. Der Autor bringt sich in Positur und füttert die Redaktion an. Der Produzent sitzt mit einem freundlichen Dauerlächeln und bekräftigenden Nicken daneben.

Der hektisch im Fahrstuhl geübte PITCH erregt gleich Neugier:

Ein selbsternannter Aufklärer wird gnadenlos von den Mächtigen gejagt, um die Welt vor sich selbst zu retten.

MRT-Bild vom schwammigen Autorenhirn während des Pitchings

HANDELNDE PERSONEN

  • Ein selbsternannter Aufklärer
  • Eine transsexuelle Ex-Soldatin
  • Ein hochkrimineller Präsident des Imperiums
  • Eine unter Machtentzug leidende VasallIn
  • Ein abgebrannter, korrupter Präsident einer Bananenrepublik
  • Eine bunte Horde debiler Jubelherolde

Echte Figuren zum Liebhaben . . .

PLOT

AKT I

-Skandal: Einführung des Protagonisten

Ein illegaler Angriffskrieg ist ein Desaster, Hunderttausende von Toten, Not, Elend, Binnenflüchtlinge … Die transsexuelle Ex-Soldatin verschafft dem selbsternannten Aufklärer erschütternde Beweise für geleugnete und vertuschte Kriegsverbrechen.

Auslösendes Ereignis: Der Aufklärer strullt via Internet dem Imperium vor aller Weltöffentlichkeit ins Eingemachte und entlarvt es als das, was es ist.

Die debilen Jubelherolde können seine jedem zugänglichen Enthüllungen nicht ignorieren, ohne sich selbst völlig zu diskreditieren – außerdem verschafft’s Auflage-, also veröffentlichen sie eifrig ebenfalls, dabei im Stillen den Tag der Rache herbeisehnend: Na warte, Bürschchen.

-Gegenschlag: Auftritt des Antagonisten

Natürlich wird der Aufklärer vom mächtigen Imperium systematisch und mit allen lauteren, aber vor allem unlauteren Mitteln gejagt. Die transsexuelle Ex-Soldatin wird abgeurteilt und isoliert eingelocht. Einige der Kriegsverbrecher werden befördert, andere eröffnen präsidiale Bibliotheken. Der Rest wird vergessen. Die Jubelherolde berichten „neutral und ausgewogen“ über diese Vorgänge. Der Aufklärer hat sämtliche rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft und verloren …

Wendepunkt I: Der Aufklärer flieht ins Asylheim.

AKT II

-Einführung weiterer Nebencharaktere und vermeintliche Rettung …

Der Aufklärer verschanzt sich ausgerechnet auf einem kleinen exterritorialen Flecken mitten im Hoheitsgebiet der unter Machtentzug leidende VasallIn. Ihr Problem: Sie kann ihn nicht festnehmen. Dort erhält er außerdem Asyl sowie eine neue Staatsangehörigkeit samt Pass. Er kann aber sein Refugium nicht verlassen, weil ihm draußen die Häscher der VasallIn in devoter Beihilfe für das hochkriminelle Imperium auflauern.

Neben den üblichen menschelnden Irrungen und Verwirrungen …

-Rache

Jetzt wird gebrütet, gedroht und gehandelt. Schmierkampagnen werden hochgefahren, um den Aufklärer noch weiter zu diskreditieren. Die Jubelherolde schießen sich auf vermeintliche Persönlichkeitsdefizite des Aufklärers ein: er stinkt, er manipuliert, er intrigiert, er skateboarded auf fünf Quadratmeter. Beschmiert er auch die Wände mit Körpersekreten?

Freundliche Begrüßung in der neuen Heimat

Das Imperium lässt seine Muskeln spielen. Die neue Heimat des Aufklärers braucht einen anderen Präsidenten, schon wegen der vielen Ölreserven im Dschungel, auf die das Imperium ohnehin ewiges Anrecht hat. Mit ordentlicher Wahlhilfe und entsprechenden Stimmzetteln aus dem Norden geht einiges. Ein korrupter Helot der „Elite“ wird als Präsident und Statthalter des Imperiums installiert. Sein Vorgänger, der dem Aufklärer Asyl gewährte, geht vorsichtshalber ins Exil.

-Hoffnungsschimmer vor dem Sturm

Die UN schlägt sich auf Seiten des Aufklärers: unschuldig und ungerechtfertigt verfolgt, Verstoß gegen Menschenrechte und internationales Recht. Wir sehen betroffene und bewegte Fans des Aufklärers bei der Verkündung. Dann Schnitt zum empörten Präsidenten des Imperiums im Twitterhassorgienrausch. Im Asylheim wird zur Feier des Tages eine Diätcola genuckelt und einer Katze ein Superhelden-Cape umgehängt.

-Schlimmste vom Schlimmen

Schwups wird die neue Heimat des Aufklärers mit Pfründen von IMF und Weltbank geködert, um den Parasiten endlich loszuwerden. Die Anwälte des Aufklärers und Freunde fürchten das Schlimmste. Die Jubelherolde trommeln den Countdown …

Wendepunkt II: Der installierte korrupte Präsident ignoriert sämtliches Völker-, Menschen- und Landesrecht.

AKT III

Die Häscher dürfen ins Refugium – hier minutiöser Ablauf, wie man die Hütte stürmt und dem inzwischen müffelnden und zotteligen Aufklärer habhaft wird. (Hinweis: Die Nutzungsrechte für das Buch, das er bei seiner Verhaftung in den Händen hält, sind noch zu klären.) Die Jubelherolde halten voll drauf – wer will und kann, ist live dabei.

-Großes Finale

In einer dramatische Montagesequenz wird der Aufklärer vom Imperium in cooler Kapuze samt Hand- und Fußschellen demonstrativ ins Land der Freien und Guten überführt, um dort für seinen schändlichen Frevel die gerechte Strafe zu finden: 100 Millionen Jahre Einzelhaft.

Würdevolle Reden der beiden hochkriminellen und korrupten Präsidenten, hysterischer Applaus bei den Heloten, zustimmendes Schweigen bei den Verbündeten des Imperiums, Aufschrei bei den Freunden und Unterstützern des Aufklärers. Parallel wird mit spektakulären Razzien potenziellen, neuen Aufklärern unter tosendem Applaus der Jubelherolde konsequent der Garaus gemacht.

Der Rest der Welt schaut Influencer Schminktipps auf Youtube, Pornos oder serielle Erzählformate (in der Rangfolge).

Botschaft: Amüsieren statt Aufmucken.

-Abspann unter den Klängen der Europahymne (die ist so tröstlich)

Ein Silberstreif am Horizont entlässt Zuschauer und Leser mit wohligen Gefühlen
DISKUSSIONSPUNKTE FÜR EINEN TV-THEMENABEND

PRO – Recht muss Recht bleiben. Und wer gegen Recht verstößt, der wird gerichtet, aber ausnahmslos.

CONTRA – Der Aufklärer hat die Lügen und wahren Handlungen des Imperiums, von denen wenige definitiv wussten, viele aber konspirativ vermuteten, mit Dokumenten eindeutig bewiesen. Seit dem wissen wir faktisch belegt, wie der Laden wirklich funktioniert.

FAZIT – Hat seine heldenhafte Großtat etwas geändert? Nein. Wird sich etwas ändern? Ja, klar. Der Aufklärer dient als Präzedenzfall zur weltweiten Abschreckung: Nie wieder und wehret den Anfängen.

VORSCHAU AUF EIN MÖGLICHES SEQUEL

Die devoten Jubelherolde sind als nächstes dran. Zumindest jene, die noch einen Rest von „Aufklärer-Gen“ in sich verspüren und nicht komplett im Schokoschacht des hochkriminellen Präsidenten verschwunden sind.

FEEDBACK

Der Autor sinkt in seinen Stuhl zurück und blickt hoffnungsvoll in die leeren Gesichter seiner überforderten Zuhörer. Kritik von der Redaktion: durchaus ein relevantes Thema, aber bei dieser völlig unrealistischen Geschichte fehlt uns a) der Held, der den Tag rettet; b) eine Liebesgeschichte – spontaner Vorschlag des Autors, wir könnten die Vergewaltigungsvorwürfe emotionalisieren –; c) ein positives, stimmungshebendes Ende, das gerade in diesen Zeiten dringend gebraucht wird. „Natürlich ist das nur unsere subjektive Meinung, aber wir möchten Ihnen da keine große Hoffnungen machen, junger Mann.“ Irritierte Zwischenfrage vom Produzenten an den Autor: „Vergewaltigung geht immer, das ist prima. Sag mal, müsste nicht der Held, der den Tag rettet, in Teil 2 auftauchen … ?“

Steht auf Happy-Endings

Doch der Sender entscheidet sich bereits gegen Teil 1 und stattdessen für eine Komödie über die sexuellen Verwirrungen einer objektophilen jungen Frau – sie will das Brandenburger Tor heiraten, weil es so männlich ist -, die der Produzent sicherheitshalber noch in petto hat. Das relevante Thema wird bestimmt irgendwann in einem Sauerland-Tatort entsorgt.

In Zukunft nur noch Heimatromane.

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