DESPERADO – Auszug Kapitel 10

Religiöse Erweckung ist für Betroffene eine befreiende, ja glückseligmachende Erfahrung, die sie häufig mit neuem Lebenssinn erfüllt und nicht wenige veranlasst, ihre frohe Botschaft in alle Welt hinauszutragen, unabhängig davon, ob die Schäfchen in spe sie nun hören wollen oder nicht. Wer bekehrt, den reitet bekanntlich die Wahrheit. Hier eines dieser Erweckungserlebnisse und die Folgen spiritueller Verzückung:

Heiliger ist unmöglich . . .

Amundsen war ein Urenkel schwedischer Einwanderer und direkt aus einem Vorort von St. Paul, Minnesota, nach Uganda gekommen. Burget hatte ihn auf einem Versorgungsflug kennen gelernt. Amundsen wusste nicht viel von der Welt, aber viel von weltlichen Versuchungen, hauptsächlich von Drogen – von Sex und Rock ‘n‘ Roll wusste er eher weniger. An die Zeit zwischen dem Einsetzen seiner Pubertät und seiner Erleuchtung, aufaddiert immerhin siebzehn Jahre, vermochte er sich nur äußerst schwammig zu erinnern.

Sein Leben erfuhr eine entscheidende Veränderung an jenem Donnerstag, an dem Gott bei ihm vorbeischaute. Angeblich hatte es geregnet, und Amundsen verspürte nach dem ausgiebigen Konsum diverser obskurer Drogencocktails eigener Herstellung eine für ihn ungewöhnliche Mischung aus gesteigerter Experimentierfreudigkeit und unbändigem Reinlichkeitsdrang. Stundenlang stand er in der Badewanne und verfolgte mit zusammengezogenen Augenbrauen, wie die Wassertropfen aus dem Brausekopf der Dusche nicht hinab auf seine nackte Haut, sondern in Zeitlupe hinauf an die Decke strömten. Amundsen überkam die Erkenntnis, sein fetter Leib wäre nichts als hochverdichtete Energie und die Schwerkraft lediglich eine Illusion. Mit neu gefundener Leichtigkeit versuchte er es den Wassertropfen gleichzutun. Unterdessen machte Gott es sich auf dem schmuddeligen Toilettensitz bequem und beobachtete interessiert, wie der erste Versuch, hoch an die Decke zu schweben, misslang und Amundsen hart auf die Fliesen schlug. Drei oder fünf unermüdliche Anläufe später blieb der Proband schließlich benommen liegen. Gott reichte ihm ein Handtuch, damit er sich das Blut von der Stirn wischte, und die beiden kamen ins Gespräch. Sie plauderten über dies und das, bis Gott, wohl weil er weitermusste, dem blutverschmierten, nackten Mann in der Badewanne im Schnellverfahren die Erleuchtung einbimste. Sein theologischer Ratschlag reduzierte sich auf: Bereue, fliegen ist was für Fledermäuse, und pinkel nicht im Stehen. Von Arschhochkriegen murmelte Gott irgendwas, auch von Beten? Amundsen war sich nicht sicher, er war zu sehr überwältigt.

„Von diesem Trip kehrte ich nie mehr zurück“, vertraute er Burget voll heiligem Ernst an.

Die Missionar-Schule in St. Paul indoktrinierte den Konvertiten äußerst gründlich für seine zukünftigen Aufgaben. Gemeinsam mit Ehefrau Becky, das Paar traf sich bei einem Bibelworkshop für Singles, lernte er alles über die Gefahren von AIDS und genitaler Verstümmelung und die Widerwärtigkeit der Homosexualität. Dazu praktische Dinge wie die Bedeutung von sauberem Trinkwasser und den Plan des Herrn, die ganze Welt zu beglücken. Im festen Glauben an den Erlöser, an den Fortschritt und die dem Kapitalismus innewohnende Gerechtigkeit zogen die hochmotivierten Missionare mit ihren zwei Kindern nach Uganda, die frohe Botschaft zu verkünden.

Smile, arsehole, he died for you on the cross, too

Land und Leute hatten es nötig, wie Burget wusste. Erklärte doch einst seine Hoheit, der selbsternannte Präsident auf Lebenszeit, Feldmarschall Idi Amin Dada, Sohn eines zum muslimischen Glauben gewechselten Katholiken, zum Schrecken aller Christen den Islam zur offiziellen Staatsreligion. Amin trieb vor allem die Sorge um seine Staatskasse, ihn scherten Petrodollars aus Libyen und Saudi-Arabien, Seelen scherten den Schlächter von Kampala nicht. Acht Jahre terrorisierte, plünderte und mordete Amin, bis er 1979 vor der Ugandischen Befreiungsarmee und Truppen aus Tansania zum Teufel floh: Er kroch zunächst bei Gaddafi, später in Saudi-Arabien unter. Mehrere mehr oder weniger korrupte Präsidenten wechselten einander an der Macht ab, bis der ehemalige Kommandant der Nationalen Befreiungsarmee Museveni mit westlicher Unterstützung das Präsidentenamt übernahm. Seit über einem Vierteljahrhundert wird das Staatsoberhaupt nunmehr mit schöner Regelmäßigkeit aufs Neue demokratisch legitimiert. Aus Dankbarkeit für harte US-Dollars machte Museveni Uganda zur amerikanischen Operationsbasis auf dem afrikanischen Kontinent und ließ radikale Evangelicals aus dem Bible Belt der Vereinigten Staaten auf sein Volk los. Bestimmt damit es den rechten Glauben lernte. Jetzt war die Mehrheit der Menschen unverändert arm, aber fromm, und schwul sein stand irgendwie unter Todesstrafe. Amundsen dankte dem Herrn in seiner unendlichen Weisheit.

Vor langer Zeit hatte Burget einmal bei Max Weber etwas über protestantische Arbeitsethik gelesen, über Fleiß als Fahrschein ins Himmelreich, Team Cherubim entwertet persönlich. Er vertraute Amundsen die Pläne für sein Ora-et-labora-Hilfsprojekt an, Beten und Arbeiten für himmlisches Wohlgefallen und irdischen Wohlstand. Worauf der Missionar hoch und heilig versprach, den Container mit den dringend benötigten Maschinenteilen für die erste christliche Coltanmine im Ostkongo wie seinen Augapfel zu hüten, bis der fromme Pilot eine geeignete Transportmöglichkeit gefunden hätte. Burget bedankte sich überschwänglich.

Amundsen hielt Wort.

Die geeignete Transportmöglichkeit wurde soeben gewartet. Am späten Nachmittag packte die Groundcrew ihr Werkzeug ein und vermerkte die Wartungsarbeiten im Bordbuch. Burget spendierte den Mechanikern einige Runden Waragi und kaltes Bier. Anschließend beluden ein paar frisch bekehrte Landarbeiter, fröhlich Halleluja singend, unter Amundsens Aufsicht die Transportmaschine. Die Ladung gut verzurrt, die Hercules vollgetankt, startete Burget kurz nach Einbruch der Dunkelheit.

Beim Abendbrot schlossen der Missionar und seine Familie den christlichen Arbeitsbeschaffer in ihr Dankesgebet ein, als drei Weiße und ein Schwarzer an ihrer Tafel erschienen. Sie trugen Tarnanzüge und Combat-Westen mit Munitionstaschen, dazu MK17 CQC, Close-Quarter-Combat-Gewehre mit Klapp-schäften, und Crewcuts. Die untrüglichen Insignien ihres Berufstandes baumelten um ihre Hälse: Wrap-around-Sonnen-brillen. Die Männer waren Privat Military Contractors, kurz PMC. Auch Söldner genannt. Früher kämpften sie für Geschäftsmodelle der US-Ölindustrie wie Iraqi Freedom, heute für die eigene Tasche.

Neugierig betrachteten die beiden Kinder die Besucher. Amundsen fragte die Söldner, ob sie schon gegessen hätten.

„Es ist genug für alle da“, sagte der Missionar.

„Wir wollen nicht groß stören, wir wollen nur eine Auskunft“, sagte ein hagerer Söldner mit leuchtend blauen Augen. Er schien der Wortführer zu sein.

„Wie unhöflich, ich hole schnell ein paar Teller.“ Becky stand auf. Ein anderer Söldner legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie sank zurück auf den Stuhl. Der Schwarze zwinkerte den Kindern zu. Das Mädchen zwinkerte zurück. Der Junge sah fragend zu seiner Mutter. Er war etwas jünger als seine Schwester und misstrauischer.

„Wir suchen den Mann, der sich Roland Burget nennt“, sagte der hagere Söldner zu Amundsen, „er hat vor zwei Monaten einen Container mit Maschinenteilen gestohlen.“

„Darüber weiß ich nichts.“ Amundsen verzog den Mund zu einem bedauerlichen Lächeln. Sein Gesicht lief rot an.

„Die Mechaniker am Flugplatz haben uns was anderes erzählt. Sie sagten, sie hätten eine Hercules gewartet, die in Ruanda registriert wäre.“

Amundsen schwieg betroffen.

Seine Frau starrte auf ihren Teller.

„Sie und ein paar Leute hätten die Maschine anschließend mit Kisten beladen, die hier vielleicht zwei Monate lagerten. Ja, das haben Sie.“ Der hagere Söldner nickte demonstrativ.

Eine bedrückende Stille breitete sich aus.

„Die Kisten gehören uns. Wir wollen sie wiederhaben.“

Becky blickte besorgt zu ihrem Mann, dessen Lächeln eingefroren schien.

„Wachet und stehet im Glauben, seid männlich und seid stark“, sagte Amundsen leise, fest entschlossen den Freund durch sein Schweigen zu beschützen, so wie Gott ihn schützen würde.

„1. Korinther, 16,13“, sagte der hagere Söldner, augenscheinlich bibelfest, „Paulus war ein dummes Arschloch.“

Sollen seine Schäfchen auf ihn verzichten?

Der Missionar verschränkte die Arme vor der Brust, worauf ihm einer der Söldner mit dem Lauf seines Combat-Gewehres die Nase brach und zwei Zähne ausschlug. Die Kinder fingen an zu weinen. Ein anderer Söldner packte Becky bei den Haaren, zog sie halb vom Stuhl hoch und beschrieb ihr detailgetreu, in welchem Zustand die Dorfbewohner die sterblichen Hüllen ihrer geliebten Mzungu-Familie am nächsten Morgen finden würden – Erwachsene wie Kinder. Derartig bestialische Grausamkeiten begingen sonst nur Konys Schlächter von der Lord‘s Resistance Army und höchstens noch der Leibhaftige persönlich – aber auch nur wenn er besonders missgelaunt war. Jetzt weinte Becky gemeinsam mit ihren Kindern.

„Wo ist Burget?“, fragte der hagere Söldner.

Dem Missionar standen die Tränen in den Augen, Blut lief ihm aus Mund und Nase. Standhaft schüttelte er den Kopf und schwieg.

Der Schwarze räumte mit seinem Gewehr den Tisch ab, Porzellan zerbrach, Glas splitterte, Lebensmittel landeten mit dumpfen Geräuschen auf dem Holzboden. Zwei der Söldner packten Amundsen bei den Armen, hoben ihn vom Stuhl und stießen ihn vornüber. Bäuchlings klatschte sein Oberkörper auf die Holzplatte. Der Schwarze trat hinter den Missionar und riss ihm die Hose herunter. Der Arsch des Missionars war breit und weiß und weich. Becky schrie auf. Die Kinder heulten laut, klammerten sich in panischer Angst aneinander. Langsam knöpfte der Schwarze den Hosenschlitz seines Tarnanzuges auf.

Wehrlos und verwirrt dachte Amundsen, dass hier in Uganda auf homosexuelle Akte die Todesstrafe stand. Ob das auch für Vergewaltigungsopfer galt? Dann dachte er an die lange Reihe der Missionare, die für ihren Glauben Demütigungen und Folter ertragen hatten und tapfer, manche sogar fröhlich Hymnen singend, in den Tod gegangen waren. Leider keine tröstlichen, sondern furchtbar schreckliche Gedanken. Vor Angst lief ihm die Pisse die Beine hinab, und er wusste, niemand würde ihn beschützen, denn niemand konnte ihn beschützen, nicht einmal Gott.

Amundsen schämte sich für seinen schwachen Glauben und redete.

JA, ICH WILL MEHR HÖLLISCHE ERWECKUNG . . .

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert