LEMMINGE IM PALAST DER GIER – Leseprobe

1

»Wenn du schon joggen gehst, kannst du auch gleich bei der Arbeitsagentur vorbei laufen und dir einen Job besorgen«, brüllt Michelle schlecht gelaunt aus der Küche, während Andy sich die Reeboks zuschnürt. Sie ist nur noch Scheiße drauf, seitdem seine Ersparnisse so gut wie aufgebraucht sind und Andy ihr auf der Tasche liegt. Das afghanische Drogengeld ist fast durch. Andy hat nur noch ein paar Tausender gebunkert, von denen sie nichts wissen soll. Die letzte Reserve. Für absolute Notfälle. Leona, ihre kleine Tochter, kommt aus der Küche zu ihm in den Flur gerannt.

»Kann ich mitkommen, Andy?«

»Nein. Ich renne nur meine übliche Runde und bin gleich wieder da.«

»Und dann hängst du den ganzen Tag vor der Glotze. Meinen PC brauchst du nicht anmachen. Ich habe das Passwort geändert. Ich bringe jedenfalls kein Bier mit, wenn ich von der Arbeit komme. Wenn du künftig was trinken willst, musst du dir das selber organisieren. Ich brauche mein Geld für Leona und mich.«

»Aber mein Geld hast du gerne ausgegeben.«

Sie kommt ebenfalls aus der Küche. Das hübsche Gesicht ist hart geworden. Wie schnell sich doch Zärtlichkeit und Zuneigung in Verachtung und Kälte verwandeln, wenn man von Luft und Liebe leben muss.

»Dein Geld? Ist es zuviel verlangt, dass du was zum Haushalt beiträgst? Du bist nicht mehr beim Bund, wo sie euch alles in den Hintern schieben. Freies Wohnen, freie Verpflegung… Das hast du ja bestens versaut.«

»Von dem Geld, das ich dir geschickt habe, hättest du gut was zur Seite legen können.«

»Das mach mir mal vor.«

»Du musstest nicht arbeiten. Ich habe in Afghanistan gearbeitet, während du auf dem Sofa lagst und die Nägel lackiert hast.«

»Und du da unten so viel Mist gebaut hast, um unehrenhaft entlassen zu werden. Ohne Pensionsansprüche. Wie kann man nur so dämlich sein. Das war wie ein Beamtenjob, aber du musstest alles kaputt machen.«

»Wir wurden reingelegt. Ich konnte nichts dafür.«

»Ja, ja, ja. Du wurdest reingelegt. Die Welt ist voll von Versagern, die reingelegt wurden. Ich kann es nicht mehr hören. Als ob irgendjemand Interesse daran hätte, eine Null wie dich reinzulegen. Immer sind die anderen schuld. Du bist ja auch so wichtig, dass die ganze Welt sich verschwört um dich herein zu legen.«

Sinnlos. Seit über einer Woche dieselben Sprüche. Absolut sinnlos, von Michele so was wie Mitgefühl zu erwarten. Andy hatte sie durch die langen Phasen der Trennung zu einer Frau verklärt, die sie nie war. Beim skypen hatte sie nur eine Riesenshow abgezogen: Gejammert und geheult, wann er denn endlich aus diesem furchtbaren Land wieder zurück käme… Dass sie Angst um ihn hätte… Wann er endlich wieder auf Urlaub käme. Wie scharf sie auf ihn sei. Was sie für ein schönes Heim sie für Leona und ihn schaffen würde… Natürlich mit seiner Kohle.

»Ich gehe mit Leona heute Abend zu meiner Mutter. Wir bleiben bis Donnerstag. Wenn wir wieder da sind, hast du besser einen Job. Irgendeinen. Ist mir völlig egal, ob er unter deiner Soldatenwürde ist. Ich meine das sehr ernst: Du hast einen Job, wenn wir zurückkommen, oder du ziehst aus. Ich kann dich nicht auch noch durchfüttern. Ich will das auch nicht. Ein richtiger Mann ist immer noch der Ernährer der Familie. Und zieh die verdreckten Laufschuhe im Treppenhaus aus. Du schleppst jedes Mal Schmutz in die Wohnung.«

»Wohl nicht nur mit den Füssen.«

Sie zieht Leona den Mantel an, dann knallt sie hinter sich die Tür zu. Andy starrt in den klinisch sauberen Flur. Sein niedergerungener Zorn auf das Universum kommt zurück. Andys Traum von einer sicheren und normalen Beziehung zersplittert seit Wochen und ist nun qualmende Asche. Es ist Zeit, ein wenig Schmutz auszuschwitzen.

2

Keine Sonne. Nur das graue Licht des Regenhimmels. Nach vier Kilometern durch die Neubau-Siedlung biegt Andy rechts in den Stadtpark. Der leichte Nieselregen patscht angenehm auf sein verschwitztes Gesicht. Joggen ist gut für ihn; wie von sich selbst verreisen. Der Park ist sein Lieblingsstück auf der Strecke, obwohl er schmutzig und verdreckt ist, zugemüllt mit weggeworfenen Schnapsflaschen, Hamburgerverpackungen, Zeitungen und sonstigem Asozialen-Schmutz. Nachts dient der Park dem menschlichen Dreck als Ort für verbotene oder flüchtige sexuelle Paarungen, dem Nachwuchs zum Koma-Saufen. Dagegen war Afghanistan ein staubiges, aber geradezu hygienisches Paradies für Andy. An manchen Ecken krakeelen besoffene Jugendliche, die garantiert niemals Steuern zahlen werden oder gar irgendjemandes Rente. Wenn es nach Andy geht, sollte man sie einfach totschlagen. Widerliche Parasiten, deren Leber schon mit zwanzig zu ticken aufhört. In den Büschen liegen Penner, die ihre Räusche ausschlafen. Diese Freiheit hat er am Hindukusch verteidigt. Trotzdem joggt er hier gerne die kurzen Steigungen rauf und runter. Immer in der Hoffnung, dass sich das Kroppzeug mal mit ihm anlegt. Manchmal sorgt er selbst dafür. Auch ein unehrenhaft entlassenes Mitglied der Kommando Spezialkräfte muss trainieren, um die Form zu halten. Um Frust abzubauen tut es gut, jemanden in den Arsch zu treten. Jetzt kommt die flache Gerade. Der Regen von vorne kühlt die erhitzte Haut. Auf einer Sitzbank vor ihm sieht Andy eine massige Gestalt im Niederschlag sitzen. Sie trägt ein dunkles Kapuzensweatshirt und hockt leicht vorgebeugt. Die Tropfen springen von Kopf und Schultern. Wahrscheinlich noch so ein Penner ohne festen Wohnsitz. Komm mir bloß blöde. Demnächst gehöre ich auch dazu. Verdammt, ich muss mir was einfallen lassen. Michelles Gekeife ist so oder so nicht länger zu ertragen, macht krank und frisst an den Eingeweiden. Die Kleine ist ja süß… Noch. In zwanzig Jahren wird sie wie ihre Mutter sein. Aus kleinen Arschlöchern werden große Arschlöcher. Andy joggt an dem Kapuzenheini vorbei, ohne ihn anzusehen. Heute erstmal keinen Stress. Da hört er ihn hinter sich singen:

»Du musst alles vergessen, was du einst besessen, Amigo! Das ist längst vorbei.«

Andy bleibt stehen und dreht sich um.

»Wie steht´s denn so, Andy?«

Andy trabt noch ein paar Schritte, bleibt endgültig stehen. »Budberg?«

Langsam geht er zurück. Tatsächlich. Vladimir Budberg. Um den Kapuzenmann knistert die Brutalität wie elektrische Funken. Vergangenheit ist ein vergifteter Fluss, dem man nicht entkommt. Das größte Arschloch, das je den Hindukusch beschmutzt hat. Keiner in Andys Zug mochte ihn, aber jeder war auf jeden angewiesen. Hansa-Ernst hatte sogar richtig Angst vor Vladi. Alle waren dabei gewesen, wie er ein junges Mädchen vergewaltigt und ihr dabei die Kehle durchgeschnitten hatte. Einige nannten ihn das Monster. Aber jeder war froh, wenn das Monster in gefährlichen Zonen mit auf Patrouille war. Vladi war ein psychopathischer Sadist, aber ein guter Soldat. Und jemand, auf dem man sich im Einsatz verlassen konnte. Im Vergleich dazu war alles andere unwichtig. Vladis Gegenwart erhöhte die Chancen. Seine dunklen Augen spähen Andy aus dem Schatten der Kapuze entgegen. Ein Blick wie gepresste Kohle. Er grinst und zeigt seine breite Zahnlücke. Die beiden Schneidezähne sind ihm von einem Paschtunen mit einem Feuerlöscher ausgeschlagen worden, als der Zug seine Hütte stürmte. Hatte er nicht mehr dentologisch herrichten können, da der gesamte Zug vorher rausgeflogen war. Bis heute nicht beim Zahnarzt gewesen. Vladi ist wohl auch nicht mehr krankenversichert. Vladimir kann das Leben auf das Niveau einer empörenden Beleidigung reduzieren. Der Arsch hat Andy gerade noch gefehlt. Er bleibt vor der Bank stehen und schaut runter auf das Grinsen in dem hässlichen Gesicht.