Interview zur Neuauflage . . .
Wie kam es zu LEMMINGE IM PALAST DER GIER?
Ursprünglich wollte ich einen Roman schreiben wie ein Melville-Film. Also eine Art Unterweltsballade. Außerdem aber auch einen kurzen, schnellen schmutzigen Noir-Roman, der sich eher an den amerikanischen Paperback-Originals orientiert.
Ich merkte schnell, dass beides nicht zusammen geht. Melville ist nicht schmutzig. Bei ihm geht es immer auch um die Ehre seiner Protagonisten. Die Resistance-Erfahrung. Das Personal für LEMMINGE, dass ich aus Erfahrungen und Bekannten „rekrutiert“ hatte, korrespondierte nicht mit dem Melvilleschen Ansatz. Deshalb ließ ich es eine Weile liegen.
Und dann hast Du es irgendwann wieder in die Hand genommen?
Ja. Ich dachte, ich habe da was, was mich interessieren könnte, wenn ich den richtigen Hebel finden würde.
Und der Hebel war „schmutzige, schnelle Paperbacks“?
Nicht nur. Ich hatte mich mal wieder mit den Situationisten und Debord beschäftigt. Was Manchette u.a. mit den Situationisten verbindet, ist das Konzept der „Kommunikationsguerilla“. Auf die Nahtstellen zwischen Noir-Roman und politischen Analysen wurde ja genügend hingewiesen. Die angestrebten gesellschaftlichen Ziele der Situationisten und anderer progressiven Kräfte existieren im Noir-Roman fast ausschließlich in der Negation, die den politischen Ist-Zustand spiegelt. Bestenfalls evozieren sie gesellschaftliche Alternativen.
Der Roman war auch sowohl als Bestätigung der „Gesellschaft des Spektakels“ gedacht wie als ihre krasse Darstellung. Dazu zwei Zitate von Debord: „Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Ansammlung von Spektakeln. Alles, was unmittelbar erlebt wurde, ist in eine Vorstellung entwichen.“ Und: „Die Wirtschaft verwandelt die Welt, aber nur in eine Welt der Wirtschaft.“
Die zielgerichtete (also dem situationistischen Umherschweifen entgegengesetzt) Verfolgung im Roman hatte für mich auch einen sehr freien psychogeographischen Ansatz. Ja, ich sehe natürlich die Widersprüche.
Es treten auch einige Figuren auf, die Du schon in anderen Romanen genutzt hast. Die wohl bekannteste ist Dein Söldner und Privatdetektiv Gill.
Das Einbeziehen meiner Figur Gill (Protagonist der Polit-Thriller SODOM KONTRAKT und LUCIFER CONNECTION) war für mich aus drei Gründen stimmig:
1. speiste ich den Hintergrund sowieso mit Charakteren, die ich schon verwendet hatte (Schark, Karibik-Klaus) und somit meinen kleinen Kosmos ausbauen konnte,
2. war er genau die richtige Figur für die gestellte Aufgabe,
3. war es auch eine Referenz an die Collage-Methodik der Situationisten, eine Art „Durchgang einiger Personen durch eine kürzere Zeiteinheit“.
Der Roman ist im Präsenz geschrieben. Das ist ungewöhnlich.
Es ist nicht die Regel. Aber es gibt schon einige Romane, die das versucht haben. Das hat mich auch interessiert: Wie funktioniert das, und: kriege ich das auch überzeugend hin. Da steht man manchmal vor komischen Problemen: Ein Satz, der in einer Vergangenheitsform bestens funktioniert, wirkt im Präsenz unglaubwürdig. Es erschien mir viel schwieriger, im Präsenz ein hohes Erzähltempo zu suggerieren. Das war einer Herausforderung. Zum Glück schreibe ich viel Dialog. Damit ließen sich Klippen umschiffen.
Andy, Vladi und die anderen scheinen mir von Anfang an Verlorene – im Gegensatz etwa zu Gill oder Schark.
Deswegen sind sie hier meine Hauptpersonen. Dabei ging es mir nicht um prototypische Lebensläufe, die angesichts der wirtschaftlichen Bedingungen für sie in gesellschaftlich inakzeptable Kriminalität führt (im Gegensatz zu gesellschaftlich akzeptierter Kriminalität wie etwa durch Hedgefonds oder Banken). Mich interessierte ihre flüchtige Existenz als mindere Objekte der Geschichte. Ihre Überwindung der Passivität durch sinnlose Gewalt, die das Spektakel bestätigt.