WEHRT EUCH 2 – Arbeit und Ausbeutung

In Grundrisse (1844) schreibt Marx über die Entfremdung, die Menschen durch Arbeit in der kapitalistischen „Wirtschaftsordnung“ tagtäglich erfahren. Entfremdung, erzähl keinen Mist, mag der ein oder andere jetzt maulen. Schauen wir genauer hin …

GESCHICHTSSTUNDE MIT KALLE

Unsere Frage an den Oberschlauen lautet: Was soll das überhaupt heißen, Entfremdung durch Arbeit?

„Nun ja, erstens die Tatsache, dass die Arbeit dem Arbeiternehmer äußerlich ist, d.h. sie nicht zu seiner eigentlichen Natur gehört. Er bejaht sich in seiner Arbeit nicht selbst, sondern er verleugnet sich. Er fühlt sich nicht zufrieden, sondern unglücklich, weil seine körperliche und geistige Kraft nicht frei entfaltet ist, sondern sein Körper kastriert und sein Geist ruiniert. (Au, au, Kalle legt aber los.)

Der Arbeiter fühlt sich nur außerhalb seiner Arbeit seiner selbst. Er fühlt sich zu Hause, wenn er nicht arbeitet, in seiner Freizeit (Stichwort Quality Time). Ergo ist seine Arbeit nicht freiwillig, sondern gezwungenermaßen; sie ist Zwang(sarbeit). Sie dient nicht der Befriedigung eines Bedürfnisses zu arbeiten, sondern ist lediglich ein Mittel zur Befriedigung von anderen Bedürfnissen (Geldverdienen für Lebensunterhalt und Freizeitaktivitäten).

Ihr fremder Charakter zeigt sich deutlich darin, dass Arbeit, sobald kein finanzieller oder sonstiger Zwang besteht, wie die Pest gemieden wird. Die äußere Arbeit, ist die Arbeit, bei der der Mensch sich selbst entfremdet. Sie ist eine Arbeit der Selbstaufopferung, der Kasteiung. Schließlich beweist sich ihr äußerer Charakter für den Arbeiternehmer darin, dass die Arbeit (das Unternehmen) nicht ihm gehört, sondern einem anderen (dem Unternehmer), dass seine Arbeit nicht ihm selbst, sondern einem anderen gehört (dem Arbeitgeber).

Infolgedessen fühlt sich der Arbeiternehmer nur in seinen tierischen Funktionen frei – Essen, Trinken, Sex usw. In seinen menschlichen Funktionen fühlt er sich nur noch als Tier. Was tierisch ist, wird menschlich, und was menschlich ist, wird tierisch.“ (Mein lieber Herr Gesangsverein.)

(Quelle: Karl Marx, Grundrisse, 1844, sprachlich etwas in die Gegenwart geholt)

Knackpunkte im Text sind die Eigentumsfrage – wem, was gehört – und die daraus resultierende Fremdbestimmung, die ein Arbeitnehmer zwangsläufig erfährt. Die Tatsache, dass jeder Mensch sich erhalten muss, d.h. seinen Lebensunterhalt in irgendeiner Form bestreiten, galt schon immer (= Notwendigkeit). Die Eigentümerklasse benutzt diese Tatsache zum eigenen Vorteil für ihre Zwecke (= Ausbeutung).

EIGENTUM UND VERTEILUNG

Nachstehende Abbildung zeigt, wo der Zaster steckt. Die Einkommensverteilung von 1820 – 2020.

Zwei Drittel der Ungleichheit besteht innerhalb der Staaten, d.h. die Einkommensverteilung der Eigentümerklasse vs. der Restbevölkerung. Nur ein Drittel der globalen Einkommensverteilung 2020 liegt im Unterschied zwischen den Staaten. Dass ab 1980 die Ungleichheit innerhalb der Staaten zugenommen hat, liegt an der neoliberalen Steuersenkungspolitik seit Thatcher, Reagan, Kohl et al. Das ist ein Beweis dafür, wie der Staat seine Eigentümerklasse systemisch bereichert.

Frage: Wem dient der Staat? Antwort: Offensichtlich den Reichen. Weitere Frage: Wem sollte der Staat qua Verfasung dienen? Antwort: Gute Frage … äh allen, ne, das ist Blödsinn, oder?

UNSERE GEGENWART

1844 liegt schon etwas zurück. Wie sieht’s heute mit der Entfremdung durch Arbeit aus?

Der Kapitalismus bleibt nicht stehen, das wäre sein Ende, sondern entwickelt sich notwendigerweise ständig weiter. (Fragt sich, zu wessen Vorteil.) Aus der primitiven Abhängigkeit, deren Auswirkungen Marx oben beschreibt, und die maßgeblich die Industriegesellschaft bestimmte, ist 180 Jahre später in der Dienstleistungsgesellschaft eine raffiniertere Form der „Unterwerfung“ entstanden. Der Neoliberalismus hat es fertig gebracht, die Wahrnehmung der Ausbeutung zu verdrehen, aus einer abhängigen Fremdausbeutung wurde freiwillige Selbstausbeutung.

Wir erleben die komplette Verinnerlichung einer feindlichen und zerstörerischen Ideologie, die allein den Interessen der Eigentümerklasse, den Habenden dient. Ihre Propaganda hat ihr Ziel erreicht: die widerspruchslose Akzeptanz der scheinbar „ewigen Gesetze“ des Kapitalismus durch die Bevölkerungsmehrheit (oder soll man es fatalistisches Fügen nennen, angesichts eines mangelnden Vorstellungsvermögens, etwas zu ändern?).

FALSCHE ORDNUNGSPOLITIK

Der größte Förderer dieser Idiotie ist unser Staat, dieser Saaldiener von Finanzwirtschaft, Industrie und Oligarchen (hierzulande gemeinhin Milliardäre genannt, wenn sie aus dem Westen stammen).

Beispiel 1: Die Ideologie der „Ich-AG“. Ein Begriff aus der Schröderschen „Reform-Agenda 2010“, welche die Selbständigkeit von Geringverdienern als soziale Errungenschaft preist. Schlagwort: Die Stärkung der Selbstverantwortung durch Unabhängigkeit. Mit der Ich-AG ging ein „negativer Nebeneffekt“, die Scheinselbständigkeit einher, die von Arbeitgeberseite sofort als Chance ergriffen wurde, um Sozialversicherungsabgaben einzusparen. Mit anderen Worten, die vermeintliche Freiheit und Selbstverantwortung waren eine reine Kostensenkungsmaßnahme für die deutsche Wirtschaft. Die „Reform“ macht aus abhängigen Arbeitnehmern sogenannte Gig-Arbeitnehmer, deren soziale Absicherung und Altersvorsorge auf sie selbst zurückgeworfen wird.

Die Arbeitgeber behalten dabei unverändert die Macht des „Heuerns und Feuerns“, wodurch sie sich die ihrer Meinung nach Besten und Billigsten auswählen können. Der scheinbar „gesunde Wettbewerb“ spielt in Wahrheit die Jobkandidaten brutal gegeneinander aus. Er ist nur für die Arbeitgeber „gesund“. Die Gig-Arbeitnehmer sind zur fortschreitenden Selbstausbeutung verdammt, wollen sie in der zunehmend härteren „Wettbewerbsgesellschaft“ überleben. Dies zeigt sich besonders in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Talfahrt. Der Arbeitsmarkt wird zu den Hunger Games.

Beispiel 2: Mini-Jobber, einst als Instrument zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes verkauft, als gute Möglichkeit für Schüler und Studenten, Geld zu verdienen, als Anreiz für Unternehmen, Personal einzustellen, entwickelte es sich zum Ersatz von Vollzeitarbeitsplätzen und -kräften. Die Arbeitslosenstatistik weist einen Rückgang der Beschäftigungslosigkeit aus, in Wahrheit wurde und wird sozialbeitragspflichtige Vollzeitbeschäftigung durch beitragsarme Minijobs ersetzt. Zum Leben reicht’s nicht, also muss ein Minijobber weitere Minijobs annehmen, um über die Runden zu kommen.

Beispiel 3: Uber und andere Serviceprovider. Das Personal, Fahrer und Kuriere, arbeitet auf eigene Rechnung, der Provider ist nur Mittler und kassiert eine Vermittlungsgebühr. Die Gelegenheitsarbeiter werden schnell zu Vollzeitselbständigen wie die Ich-AGler. Reguläre Unternehmen wie Taxibetriebe geraten unter Druck und streichen die Segel, wenn die Konkurrenz überhand nimmt.

Das Machtverhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmer verschiebt sich immer weiter zugunsten der Arbeitgeber. Die unmittelbar Gefickten sind die Jobber und „Giger“, mittelbar jedoch trifft es die ganze Gesellschaft, denn die Steuereinnahmen aus diesen Formen der Arbeit sind sehr gering.

Alles bleibt beim Alten: Der eine Teufel ist wieder da und der andere Teufel kriecht zurück ins Höllenloch.

Bemerkenswert ist dazu, dass viele Giger ein Scheitern in diesem gezinkten System als persönlichen Fehler betrachten. Eine der Folgen ist die zunehmende kontinuierliche Selbstoptimierung als Muss, um in dem (einseitigen) Konkurrenzkampf bestehen zu können. Darum sind dies auch große Zeiten für Selbsthilfebücher und -videos sowie Motivitations- und Karrieregurus, die mutlosen oder erschöpften Gigern neue Eurphorie eintrichtern. Wir sind im Stadium der totalen Gehirnwäsche angelangt.

Wen die Euphorieindustrie nicht motivieren kann, dem bleiben immer noch die leistungsfördernden Drogen. Die übrigen dürfen sich in die wachsende Zahl der psychisch Kranken einreihen. Für die gibt’s auch Drogen …

FOLGENSPIRALE

Die Reaktion vieler Arbeitnehmer ist eine andere. Sie betreiben bewusst die „individuelle Vorteilsnahme“. Durch „Tricks“, z.B. sich arbeitslos melden und das Bürgergeld mit Schwarzarbeit aufstocken, versuchen sie, ihre monitäre Misere auf Kosten der Allgemeinheit und zum Wohle ihrer Gesundheit zu lindern. Wie sonst soll der von Bundesregierung und EZB herbeigeführten Inflation begegnet werden?

Natürlich ist diese Form der Selbsthilfe den Blödmichel*Innen – zur Freude der Mächtigen – eine Dorn im Auge (Boulevardmedien, Achtung Kontrolle und andere Hetzscheiße im TV machen Stimmung gegen diese Schmarotzer). Gibt es darum die wachsenden Hartz-4-Empfänger-Kontrollbrigaden der Behörden? Na, logo.

An die wahren Ursachen wollen Wirtschaft und Arbeitgeber nicht rangehen, also muss der von ihnen selbst verursachte akute Fachkräftemangel für alles herhalten: Dem Pack geht es zu gut, das soziale Netz federt zu sehr ab etc. Deshalb sind die Arbeitgeber bestrebt, den Arbeitsmarkt weiter zu deregulieren. Sie wollen durch Zuwanderung neue, billige Arbeitskräfte ins Land lassen, die bereitwillig für niedrigste Löhne arbeiten (weil selbst diese eine soziale Verbesserung gegenüber ihren Heimatländern darstellen). Zugleich wird eine Senkung von Bürgergeld etc. gefordert.

Im Vorzeigestaat der oligarchischen Alleinherrschaft + sozialer Ausbeutung, den USA wird das seit Jahrzehnten schamlos praktiziert: Die illegalen Einwanderer arbeiten, zahlen Steuern, aber streiken und beschweren sich nie und sind viel seltener krank, weil sie sonst ihren Job verlieren würden. Das Poltern gegen die Illegalen in den USA ist also ein relatives Problem. Trumps Golfplätze werden auch von Illegalen gepflegt und gewässert und auf seinen Baustellen geht’s nicht anders zu. Jede Wette.

Wetten auch, das in Berlin schon einige Mandatsträger krampfhaft überlegen, die hierzulande geltenden Arbeitsbeschränkungen für z.B. Asylbewerber, Migranten und Ukraineflüchtlinge bis zum Abschluss des Prüfungsverfahrens, oder im Falle der Ukraine, bis zur Rückkehr ins Heimatland, aufzuheben? Die Argumente liegen auf der Hand: Kostenreduzierung für den ohnehin finanziell überlasteten Staat.

So manch ein Wahlstratege der bürgerlichen Parteien denkt sich, das Stimmvieh muss einfach dafür sein, wenn dem „Gesocks nicht mehr das Geld in den Arsch geblasen wird.“

Dass dadurch die Löhne insgesamt nach unten getrieben werden, fällt angesichts der Genugtuung, es dem Gesocks gezeigt zu haben, nicht ins Gewicht. Blödmichel*Innen denken eben zu kurz.

Die Politik spielt seit 20 Jahren die Sozialschwächsten erfolgreich gegeneinander aus.

Die Reichen hingegegen werden jedes Jahr ohne eigenes Zutun reicher. Dafür sorgt das System. Ein Bekannter erzählte mir: Obwohl 2021, der Höhepunkt von Corona, sein schlechtestes Einkommensjahr war, er aufgrund seiner Geldanlagen trotzdem noch sechsstellig verdiente. Zur Erinnerung: Die Mehrheit im Lande hatte im gleichen Zeitraum finanzielle Einbußen hinnehmen müssen. Kein Wunder.

Merke: Der Geldteufel scheißt immer auf die größten Haufen.

NIX PASSIERT

Innerhalb des Systems besteht keine Chance auf Änderung. Das zeigt die gegenwärtige politische Auseinandersetzung. Damit der Karren wieder in Schwung kommt, wird das ausgelutschte Instrumentarium aus Steuersenkung, Privatisierung, Finanzialisierung, Militärisierung, das für die Misere verantwortlich ist, unter neuen wohlklingenden Titeln verschärft zum Einsatz gebracht.

Alles Maßnahmen im Sinne der Eigentümerklasse. Womit sich wieder einmal beweist, sie hat die Macht, die Regeln nach ihrem Gusto immer neu zu definieren. Hier greift Parentis 2. Gesetz der Macht: „Wenn die Regeln die Eigentümer einschränken, dann ändern sie einfach die Regeln.“

Max Säger pöbelt: „Gegen das Elend helfen keine Reformen der bürgerlichen Parteien, Leute. Das leuchtet doch jedem ein, der die benutzte Unterhose nicht auf dem Kopf trägt.“

Genau, das einzige, was hilft, ist eine soziale Revolution. Und wie stehen die Chancen dafür?

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