Kaum hatte die Unterweltgröße Wetten-Dieter unsere drei Freunde aus dem Arschleder werfen lassen, eilten sie schnurstracks zu Opa Kurts Refugium für die Gestrandeten unserer Leistungsgesellschaft. Walter, Jürgen und Günter beeilten sich, als ginge es um ihren eigenen Abstieg, ging es ja auch, im übertragenen Sinne, aber so weit sind wir noch nicht . . .
Keuchend hasteten die drei die Siedlungswege hinab, vorbei an akkurat gepflegten Kleingärten, in denen jedes Gewächs nur satzungsgemäß spross und Gerüchten zufolge selbst die renitentesten Maulwürfe frustriert nach Mengede rübergebuddelt hatten.
An den Fahnenmasten hingen schwarz-gelb und schlaff die Vereinsflaggen der Getreuen. Nur eine Laube zierte trotzig ein blauer S04-Lappen, der wie ein Brett regelrecht in der Luft zu stehen schien.
„Mann, ich komme mir vor wie im Abstiegskampf“, ächzte Jürgen und hielt sich die Seiten.
„Hör auf zu wimmern, Endspurt!“, tönte Walter und klang selbst, als pfiffe er aus dem letzten Loch.
Endlich erreichten sie den heruntergekommenen Schrebergarten, demonstrativ unordentlich, haarscharf an der Vereinssatzung vorbei, als liebäugelte ihr Eigentümer aus reiner Opposition mit der Anarchie: Opa Kurts Laube.
Am Zaun gegenüber lehnte ein Mann im Schalke Trikot mit der Nummer 7 auf dem Rücken. Toschewski war Frührentner und der einzige Schalke-Fan im Umkreis von fünfzehn Kilometern. Dank Bestechung und gezielter Intrigen hatte er sich zum Blockwart der Siedlung hochgebissen. Offiziell war er Satzungswart. Ein erweiterter Vorstandposten, den niemand wirklich haben wollte, für den Toschewski sich jedoch mit dem Hinweis empfahl, sein älterer Bruder wäre bei der Waffen-SS gewesen und er hätte darum schon früh Zucht und Ordnung gelernt. Tugenden, die Toschewski hoch und heilig versprach, bedingungslos in den Dienst der Satzung und ihrer Durchsetzung stellen zu wollen.
Einen Miniempfänger am Ohr hörte er Sport und Musik und schlürfte dabei Stauder-Pils. Diesen Kompromiss musste der Blockwart leider eingehen, weil die Gelsenkirchener Glückauf-Brauerei ohne ihn um Erlaubnis zu fragen, 1980 ihre Produktion eingestellt hatte. Den Markenwechsel kommentierte Walter seinerzeit mit den legendären Worten „da kannste auch gleich Pisse saufen, woll“ und katapultierte sich damit nach ganz oben, noch vor Opa Kurt, auf die Todesliste des nachtragenden Schalke-Fans.
Ausgepumpt und schwitzend stieß Walter vor Jürgen und Günter das Gartentor auf: „ Na, wer is wieder Erster?“
„Schalke führt man 1:0 in Leverkusen“, schleuderte Toschewski ihnen anstelle einer ordentlichen Begrüßung entgegen.
„Na, Libuda, wat macht die Leber?“, fragte Walter und zwinkerte den anderen beiden zu.
„Dat ist ne Sache zwischen mich und mein Gott!“ Toschewskis Vokabular bestand weitestgehend aus Worthülsen seiner Vereinsidole, wenn er nicht Versatzstücke aus Jerry Cotton oder Jagd & Hund zitierte.
„An Gott kommt keiner vorbei“, goss Jürgen Öl ins Feuer.
„Außer Stan Libuda“, ergänzte Günter schnell.
Toschewski ärgerte sich, aber antwortete mit feierlichem Ernst: „Da könnter aber für, ihr Arschgesichter.“
„Ihr seid trotzdem nie mehr Meister geworden“, sagte Walter. Er und Jürgen lachten dreckig.
„Und ihr steigt dafür wieder mal ab“, konterte Toschewski hämisch.
Touche! Walter regte sich prompt auf: „Ne, wat bist du für’n Doof, Toschewski!“ und verschwand stinkig in der Laube.
Jürgen latschte grellig hinterher.
Toschewski deutete auf das Unkraut: „Günter, bestell dem Kurt, wie dat Unkraut bei ihm hier sprießt, ist dat nicht satzungskonform.“
„Die Natur schert sich nicht um den Menschen, sacht Opa immer“, erwiderte Günter.
„Dat is keine Natur, dat is Anarchie und die ist nicht statthaft. Nicht in unsere Kolonie, hörste dat!“
Mit einem lauten „Glücks auf, dem Steiger kommt’s“, betrat Günter die Laube.
Die Einrichtung des kleinen Raumes war so betagt wie ihr Besitzer: Ein altes, gammeliges Sofa, ein Holztisch, ein Sessel aus dessen Polster stellenweise die Füllung hervorquoll sowie zwei wackelige Küchenstühle aus Holz. Dazu eine Spüle, ein alter Gasherd mit Gasflasche draußen, hinterm Haus. Ein alter Küchenschrank, darauf ein Radio aus den Fünfzigern und ein Kühlschrank. An den Wänden eine Kuckucksuhr, ein Spiegel und diverse Fotografien: Ein gerahmter Schnappschuss auf dem Opa Kurt, sein Sohn Karl-Ernst und Enkelsohn Günter in die Kamera grinsten. Daneben Porträts von Marx, Engels und Che Guevarra sowie von Sophia Loren, Brigitte Bardot und den BVB- Meistermannschaften von 1956 und ‘57 mit den drei Alfredos: Niepklo, Kelbassa und Preißler. Die drei Kicker trugen den selben Vornamen: Alfred. So hätte Günter beinahe auch geheißen. Nur um Opa Kurt zu ärgern, entschied sein Vater Karl-Ernst sich am Taufbecken, ihn nach dem Schauspieler Günter Ungeheuer zu nennen.
Walter fummelte an dem Radio mit dem polierten Walnusholzkörper. Auf der Skala standen in goldener Schrift die Kurzwellensender von Radio Hilversum über Belgrad bis Radio Eriwan. Jürgen öffnete derweil drei Bierflaschen. Endlich WDR 2. Sie drängten sich vor den Lautsprecher, kaum ein Ton war zu hören.
„Mann, ist schon …“, sagte Jürgen.
„Ruhe, ich hör nix“, rief Walter dazwischen. Er hatte den Puls wieder auf 200 und presste sein Ohr an den Empfänger. „Boh, sonne Scheiße auch mit dem elenden Ding hier inne Laube!“
„Dat liecht an die Überlandleitungen“, erklärte Günter.
„Tor! Tor! Tor in Hannover!“, war es aus dem Radio zu hören.
„Für wen?“, wollte Walter wissen.
Just in dem Moment gab der elende Empfänger seinen Geist auf. Nur noch statisches Knistern drang aus dem Lautsprecher. Walter, Jürgen und Günter waren wie erstarrt.
„Tor für wen jetzt?“, fragte Jürgen und stellte seine leere Flasche auf den Tisch.
Walter glaubte es nicht, er sprang auf: „Alles nur wegen Wetten-Dieter, dat kricht das Arschloch wieder.“
„Wie denn?“, fragte Günter.
Jürgen kramte inzwischen im Kühlschrank nach einer vollen Flasche Kronen.
„Meinste vielleicht, ich bin vor die zwei Spritzpumper bange?“
„Aber sicher biste das, Walter.“
„Und dat, mein schmaler Freund, ist ein Zeichen von Intelligenz“, konterte Walter.
„Wer hat denn jetzt dat Tor gemacht?“, fragte Jürgen erneut.
Auf einmal drang großes Gejohle von Toschewski zu ihnen herein. Jürgen ließ den Flaschenöffner fallen. Jeder wusste, was das bedeutete.
„Oh, ne. Dat jetzt aber nicht.“ Jürgen rieb sich die Stirn.
Walter kippte ins alte Sofa zurück: „So ein Mist.“
„Ausgerechnet wo wir et doch so dringend gebraucht hätten“, jammerte Jürgen.
Günter schüttelte stumm den Kopf: Ausgerechnet.
Durchs Fenster war Toschewski zu hören. Er blökte in ein Megafon, das er von einem Bademeister aus dem Grubenbad erstanden hatte: „4:1 aus, vorbei. Abmarsch in die Liga zwei!“
Jürgen lehnte sich aus dem Fenster hinaus: „Dat heißt Relegation, du Spasti.“
„S 04, der König im Revier!“, rief Toschewski durch sein Megafon und begann wie berauscht zu tänzeln. „S 04, der König im Revier! S 04, der König im Revier!“
Walter quälte sich vom Sofa hoch, stampfte durch den Raum und riss die Tür auf: „Klappe, du Volldoof!“
ZACK! war die Tür wieder zu. Beinahe wäre die Blümchentapete von den Wänden gerauscht.
Ehe Jürgen „dat ist meins, brüllen konnte“, schnappte Walter sich das offene Pils vom Tisch und spülte seinen Frust herunter.
Nachdenklich rülpsend betrachtete er die Flasche: „So ist dat mittem Verein, Männer. Wennsten am dringensten brauchen tust, dann kassierste die Arschkarte.“
„Und wat bleibt uns da? Nur der Trost des Kleinen Mannes“, philosophierte Jürgen eine neue Flasche aufhebelnd.
„Freunde wir wir …“, sagte Günter mit gebotener Feierlichkeit, „dem Ende nahe …“
„ … aber spritten wie Tier“, lautete unisono die Antwort.
Hoch die Flaschen.
Walter sagte: „Morgen teeren und federn wir Toschewski und brennen Wetten-Dieters Villa ab!“
Darauf stießen sie an und riefen aus lauten Kehlen: „Hau wech dat Zeuch!“