Aktualisiert und aufgepumpt: Müßige Überlegungen zum Sosein im Hiersein und warum das Ganze, in mehreren Teilen und loser Folge.
EINLÄUFE FÜR LEVITENLESER
Wahrscheinlich endete das 20. Jahrhundert bereits mit dem 09.11.89 und nicht mit dem 11.09.01, wie viele meinen. Letzterer Tag wird vielleicht als Teilchenbeschleuniger in Erinnerung bleiben, als herbeigesehnter Anlass, um die Allmachtsphantasien in die Jahre gekommener US-Neo-Cons Realität werden zu lassen.
An dem Tag wurde das Primat der Politik endgültig von den Primaten in der Politik übernommen, die Clausewitz zwar nicht persönlich kannten, aber sein Diktum vom „Krieg als Politik mit anderen Mitteln“ prima fanden. Seitdem überholen uns die Folgen dieser mit Kriegen in Afghanistan, Irak, Syrien – um nur die augenscheinlichsten anzuführen – neugeschaffenen Realität tagtäglich rechts und links: IS-Terror, Flüchtlingsströme, Wiedererstarken der Rechten, Verbarrikadierung Europas (unvollständige Aufzählung). Jüngst kündigten die USA und Russland das Mittelstreckenraketen-Abkommen – und niemand geht auf die Straße! Das ist nur in einer geschichtslosen, medial zugemüllten, komplett ignoranten oder völlig impotenten Gesellschaft möglich.
Jean-Patrick Manchette stellte sich für seinen unvollendeten letzten Romanzyklus mit dem übergreifenden Titel „Les Gens du Mauvais Temps“, Menschen in schlechten Zeiten, die Frage: „Wie zum Teufel konnte es nur soweit kommen?“ Er bezog seine Frage auf die Nachkriegszeit, genauer von 1968 bis in die 1980ziger Jahre (mit 1956, dem Jahr der Ungarn-Krise als Prolog), ihren Kriegen, Krisen und Unruhen und dem Sieg der kapitalistischen Kräfte über die Revolte. Rückschauend erscheint mir für uns heute 1989 als ein zentrales Jahr. (Andere meinen bereits 1979 die Zeitenwende festmachen zu können, sie beziehen diese Einschätzung auf die Vorboten.) Der Soziologe Fukuyama sprach nach dem Untergang des „Reichs des Bösen“, gemeint waren die Sowjetunion und ihre Satelliten, euphorisch vom „Ende der Geschichte“. Demnach hätte die Welt mit dem „freien, demokratischen“ Kapitalismus ihre endgültige Gesellschaftsform gefunden. Inzwischen ist selbst Fukuyama kein Fukuyamaist mehr, sondern schämt sich vermutlich ob der Blödheit seiner Aussage. An dieser Stelle drei Feststellungen:
- Die Historie der Menschheit und ihren Herrschern ist im Besonderen eine Wirtschaftshistorie. Denn Macht und Geld sind unmittelbar miteinander gekoppelt.
- Der Kapitalismus transzendiert jedes politische Herrschaftssystem.
- Die einzig wirklich erfolgreiche Revolution war die Ablösung des Adels durch die Bourgeoisie. (Und diese lässt sich bis auf die Renaissance zurückdatieren. Die Französische Revolution hatte formell vollzogen, was informell längst der Fall war, nämlich die Übernahme der Staatsmacht durch das Bürgertum. Getreu dem Diktum, wer bezahlt, der hat auch das Sagen.)
Das bringt uns zum Roman noir, der ein Produkt des Sieges der Konterrevolution in den 1920er – 1930er Jahre ist, wie Manchette genau formulierte und darum nicht müde wurde, in seinen Chroniken das Thema Ökonomie als das zentrale Thema unserer Zeit und folglich auch des Roman noir zu betonen. Weil Sieg der Konterrevolution, der Sieg des Kapitals bedeutet, ist ein Minimum an historischem Verständnis und Wissen über gesellschaftliche und wirtschaftliche Kontexte hilfreich, um den Kreislauf des Elends, in dem wir gefangen sind, besser zu verstehen.
Geld fließt nach oben. Drei wahllose Beispiele gefällig?
- Eine Näherin in Bangladesh, die unser aller Wegwerfklamotten fertigt, verdient 4 US-Dollar am Tag. Ihr Arbeitgeber ist zugleich ihr Vermieter und Lebensmittellieferant. Der Lohn reicht nicht aus, um die Kosten von Miete und Lebensmitteln zu bezahlen. Die Frau und ihre Familie sind in einem endlosen Schuldenkreislauf gefangen.
- Die Walmart-Besitzer, die US-Familie Walton, verdienen 11.000 US-Dollar die Stunde. Walmart-Mitarbeiter haben ein Anrecht auf Foodstamps (Essensmarken vom Staat), weil sie von ihrem geringen Einkommen nicht leben können. Anträge auf Foodstamps gibt es für die Mitarbeiter in jedem Walmart.
- Die Armutsquote in Deutschland lag 2015 bei knapp 17%, 1998 lag sie bei rund 11%.
Versuchen wir darum nüchtern, vor dem rituellen Betrinken aus Anlass der 24. Wiederkehr von Jean-Patrick Manchettes langem Abschied, seine Frage in Bezug auf unsere Zeit zu adressieren: Wie zum Teufel konnte es nur soweit kommen?
ANFANG VOM ENDE
Das herrschende Weltwirtschaftssystem beruht auf einigen, wenigen Maximen.
Die erste Maxime lautet: Wachstum ist essenziell.
Wachstum ist gleichbedeutend mit mehr Produktion, mehr Absatz, mehr Umsatz, mehr Gewinn, mehr Investitionen, mehr Steuern. Warum ist Wachstum eigentlich essenziell? (Das verdient einen gesonderten Artikel.) An dieser Stelle muss reichen: Ohne Wachstum funktioniert angeblich nichts, mehr noch, bricht alles zusammen. Nicht nur die Wirtschaft, sondern unsere Gesellschaftsordnung, unsere freiheitliche Demokratie. Das ist kein Schreckensbild, die Stabilität der liberalen westlichen Demokratien gründet sich im Wesentlichen auf ihre wirtschaftliche Stabilität. Ein Blick auf die politische Entwicklung in Ländern mit wirtschaftlicher Schieflage und daraus resultierenden großen sozialen Spannungen verdeutlicht das. Laut gängiger Wirtschaftstheorie ist das Wachstum unendlich. Darum muss Wachstum her. Egal wie. Deshalb wird nach Möglichkeit alles privatisiert und monetarisiert. Die Praxis legt jedoch das Gegenteil nahe, Wachstum ist endlich, wie alles auf unserem Planeten dem Naturgesetz der Endlichkeit unterliegt; außer Wasserstoff und Blödheit, wie Harlan Ellison anmerkte, und ausdrücklich das Universum einbezog.
VERBLÖDUNG ALS ZIEL IDEOLOGISCHER RUNDERNEUERUNG
Die 60-ziger Jahre des 20. Jahrhunderts, befreiten den Kapitalismus und erneuerten ihn zugleich. Das Zeitalter des ICH begann in der kulturellen Weltmacht USA. Der Nonkonformismus propagierte zunächst ein neues gesellschaftliches Bewusstsein, doch nach nur wenigen Jahren harscher Realität degenerierten Love and Peace zu No Future. Auf den Rausch des gemeinschaftlichen Erlebens der neuen jungen Generation, folgte die Enttäuschung, die Ablehnung und darauf die Vereinzelung, der Rückzug nach Innen. Der innere Kosmos als Gegenentwurf zu einer chaotischen äußeren Welt, die ohnehin nicht beeinflussbar sei.
Das Ego – mein Bewusstsein, meine Bedürfnisse, meine Kaufkraft – wurde konsequent unter Werbedauerfeuer genommen. Die Konsumgesellschaft haute den Turbo rein.
Zur gleichen Zeit erklärten konservative Industrielle den Kampf um die ideologische Vorherrschaft in den von linkem Gedankengut verseuchten Universitäten für verloren und gründeten ihre eigenen Think Tanks. Sie finanzierten private „Forschungsinstitute” zur Bildung eines „konservativen Bewusstseins” der Öffentlichkeit, was nichts Geringeres als die Umerziehung der Bevölkerung bedeutete. Eine Saat die aufgehen sollte. Einer der ersten Schritte, war die Abkehr vom Gedanken der Bildung als kostenfreies Allgemeingut einer demokratischen freien Gesellschaft. Bildung wurde zum Wirtschaftsgut deklariert und hatte als solches kapitalistischer Logik nach auch ihren Preis. Je exklusiver, desto teurer. Studiengebühren wurden eingeführt. (Auch hierzulande einst heiß diskutiert, und teilweise umgesetzt, besonders von den wertkonservativen Arschkrampen. Was nichts kostet, ist schließlich nichts wert.)
Weltweit schossen und schiessen seit jener Zeit Privatschulen und -universitäten wie Pilze aus dem Boden. Die Industrie sponsert generös Lehrstühle und Forschungsprojekte. In wessen Sinne wohl? Staatliche Schulen wurden und werden die Etats gekürzt, ihnen fehlt am Ende schlicht das Geld, um mit der finanziell gepamperten privaten Konkurrenz mitzuhalten. Bildung ist wieder eine Frage des Vermögens geworden – oder der Verschuldung. Damit manifestiert sich schon bei der Ausbildung junger Menschen die Zweiklassengesellschaft: die Klasse der Habenden und die der Habenichtse. Die finanzstarke „Elite“ bleibt zunehmend unter sich. (Die kreditfinanzierte Elite, muss sich auf jahrzehntelanges Tilgen ihrer Schulden einstellen.) Nur noch die Unterschicht besucht öffentliche Schulen mit sanierungsbedürftiger Bausubstanz und hoffnungslos veralteten Lehrmitteln.
Während das Bildungsniveau der breiten Bevölkerung langsam aber kontinuierlich sinkt, steigt die Anzahl vermeintlicher Experten. Vor einigen Jahren haben ARD und ZDF das Vokabular von Tagesschau und Heute drastisch vereinfacht, damit die Nachrichten (gelenkte Information, d.h. Propaganda im Dienste des Systems) für alle verständlicher sind, dazu erklären Fachidioten den tumben Bauchmenschen, wie sie sich die Welt zu denken haben. Besser Fühlen, Denken ist unerwünscht. Die letzten Reste eigenständiger Hirntätigkeit erledigt die Schwarmblödheit in den sozialen Netzwerken und der wöchentliche Gottesdienstersatz Fußball-Bundesliga. Gibt es eigentlich noch irgendeine Produktwerbung, in der nicht irgendwelche Knallchargen grundlos jubeln?
Fortsetzung unten …