GEDANKEN ZUR ROTEN ARMEE FRAKTION
2020 jährt sich zum 50. Mal die Gründung der Roten-Armee-Fraktion, damals im Volksmund Baader/Meinhof-Bande genannt. Eine Handvoll junger Menschen, die in Folge der Studentenbewegung und den Protesten 1968 in den Untergrund gingen, weil sie eine tiefe Ausweglosigkeit angesichts der gesellschaftlichen und politischen Lage in der Bundesrepublik empfanden. Das Klima des politischen Aufbegehrens gegen den Kapitalismus, die verlogene Vätergeneration und die Alt-Nazis in Westdeutschland, gehörten wohl ebenso zu den Bewegründen ihres radikalen Enschlusses, wie der grausame Vietnamkrieg des großen Bruders und Freundes USA. (Von dessen Gnaden die BRD prosperierte und zum Aushängeschild der Überlegenheit des Westens avancierte.) Darüberhinaus erscheint es plausibel, dass eine persönliche Traumatisierung in früher Kindheit, die von Nationalsozialismus, 2. Weltkrieg und Nachkriegszeit geprägt war, mit zu ihrer Entscheidung beigetragen haben könnte.
Baader und Co. rechtfertigten sich und ihre Taten mit politischen Traktaten und hofften die passiven Linken zum Kampf aufzurütteln, vor allem aber, dass von ihrer Avantgarde der Revolution ein „revolutionäres Feuer auf die Bevölkerung überspringt“. Diese Hoffnungen erfüllten sich nicht. Der von ihnen vielzitierte Mao beschrieb eben nicht die bundesrepublikanische Wirklichkeit Ende der 1960er Jahre. In einer von Konsum und wachsendem Wohlstand träge gewordenen Gesellschaft gab es keinen Nährboden für Widerstand und Klassenkampf, selbst wenn Teile der Jugend das anders sahen und von einem Revolutionsfieber ergriffen schienen. Außerdem ging die Ungerechtigkeit und das Elend in der 3. Welt, für die RAF von zentraler Bedeutung, der großen Mehrheit im Westen am Arsch vorbei. Bei vielen der damaligen Ü-30 Generation bestätigten die Krisen und Kämpfe in den just in die Freiheit entlassenen ehemaligen Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent wahrscheinlich nur ihre latenten rassistischen Vorurteile.
Die dilettantische 1. RAF-Generation wurde nach kaum zwei Jahren im Untergrund verhaftet. Mit dem Einzug ins Gefängnis begann erst ihr eigentlicher Kampf. Während die sensible und idealistische Ulrike Meinhof psychisch und seelisch – nicht zuletzt wegen interner Querelen – zugrunde ging, nutzte vor allem Andreas Baader den Prozess im Hochsicherheitstrakt Stuttgart-Stammheim, um Justiz und Staatsmacht vorzuführen. (Das ganze Verfahren ist zugleich ein Musterbeispiel staatlicher Selbstdekuvrierung.)
Der Mythos RAF wurde erst in Stammheim geboren.
Die eigene Person konsequent als Waffe im Kampf gegen die oppressive Obrigkeit zu benutzen, wie von Baader und Raspe proklamiert, endete 1977 im Äußersten, im kollektiven Selbstmord. Dass sich um die genauen Umstände des Todes von Baader, Ensslin und Raspe Gerüchte und Verschwörungstheorien ranken, nutzt dabei ihrer Mythologisierung. Wäre es nicht genial, wenn Baader das vorhergesehen und gezielt den Ball ins Rollen gebracht hätte? Vor allem wenn der Staat dann auch tatsächlich so gehandelt, nämlich den Selbstmord ermöglicht oder einfach geschehen lassen hätte? Wir können nur spekulieren. Es ist aber anzunehmen, dass der Selbstmord am Ende eines zerstörerischen psychischen Dauerstresses stand, der – nachdem alle Karten ausgespielt waren und alle Hoffnung zunichte gemacht wurden – keinen anderen persönlichen Ausweg mehr zuließ, und zugleich ein letztes Signal an alle Zweifelnden ermöglichte, den Staat noch konsequenter und radikaler zu bekämpfen. Vielleicht war der Freitod aber auch nur die Kopie eines großen Abgangs, die Baader seinen Lieblingsfilmen abgeschaut hatte. Das Ende des eigenen Lebens zu bestimmen, ist bekanntlich die letzte Freiheit des Individuums. Oder?
Jedenfalls eine dramaturgische Glanzleistung. Eine große Tragödie mit unschuldig-schuldigen Protagonisten (Inhaftierte, Täter und deren Opfer), einem mehrheitlich erschrockenen und verstörten Chor (Bevölkerung), und einem Staat, der zugleich Antagonist (Justiz- und Polizeiapparat) und Olymp/Götter verkörperte (Bundesregierung und Parteichefs). Sophokles stand Pate.
Die Haftbedingungen, die ganze Wucht der Staatsgewalt, die auf die Staatsfeinde, zumeist Kinder aus bürgerlichen Familien und Studenten mit sozialem Bewusstsein niederging, erzeugte eine Sympathisanten- und Unterstützerszene, deren Hauptziel (neben den unveränderten politischen Zielen) die Verbesserungen der Haftbedingungen und am Ende die Freiheit aller politischen Gefangenen war. Aus diesem Umfeld rekrutierte sich die sogenannte 2. und später dann die 3. Generation der RAF.
Die 2. Generation agierte wesentlich professioneller als ihre Vorgänger. Sie übte zwischen 1975 – 1981 Aktionen (Anschläge, Geiselnahmen) aus, die vornehmlich der Befreiung der Gesinnungsgenossen dienen sollten: Die große Raushole. Die Niederlage im deutschen Herbst 1977 brachte sie aus dem Tritt. Ihre anschließenden Aktionen ab 1979 richteten sich gegen das US-Militär (Generäle Haig und Kroesen). Christian Klar und Brigitte Monhaupt und die anderen wurden kurz darauf inhaftiert und zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Da ihnen im Einzelfall meistens kein Mord oder Anschlag persönlich nachgewiesen werden konnte, lag die Härte des Strafmasses in ihrer Zugehörigkeit zu einer staatsfeindlichen Gruppe begründet. Obwohl der Staat bemüht war, ihre Straftaten als rein kriminelle Delikte zu behandeln, um sich nicht dem Vorwurf eines politischen Verfahrens auszusetzen. Das Problem eines Staates im Umgang mit seinen Feinden, die ihn selbst anzweifeln und verändern wollen, wird hier offenbar. Jedes System schützt zunächst immer sich selbst. Von außen betrachtet könnte man durchaus „egal wie“ hinzufügen, ungeachtet der brutalen Verbrechen und Morde der Systemgegner. Eine schmale Gratwanderung für den Rechtsstaat, der per Definition nicht rächt, sondern nach Recht und Gesetz urteilt.
Die sogenannte 3. Generation schließlich war die lernfähigste, vielleicht auch die konsequenteste und begabteste. Ihre mutmaßlichen Mitglieder hatten aus den Fehlern und Versäumnissen ihrer Vorgänger die richtigen Schlüsse gezogen und handelten stringent wie eine echte Untergrundorganisation. Die Fahnder vermuteten häufig nur, wer wirklich dazu gehörte, konkrete Beweise fehlten meistens. Vorbilder und Genossen für die 3. Generation gab es in Europa zuhauf: ETA, Action Direct, Brigate Rosse und andere. Dazu gehörten natürlich auch die palästinensischen Befreiungsbewegungen, in deren Ausbildungslagern seit Ende der 1960er Jahre bereits viele europäische Terroraspiranten die handwerklichen Grundkenntnisse des Guerillakampfes erlernten. Die 2. Generation hatte sich schon international koordiniert, die 3. Generation führte den eingeschlagenen Weg kompromissloser fort und wurde offenbar auch selbst im Ausland (Spanien)aktiv. Ihre Morde und Bombenanschläge sind bis heute weitestgehend ungeklärt. Nicht zuletzt deshalb ranken sich um die Existenz der 3. Generation zahllose Gerüchte, bis hin zu der Behauptung, staatliche Stellen hätten eine Phantom-Terrortruppe ins Leben gerufen, um sich ihrer gezielt zu bedienen. Das streiten ehemalige RAF-Mitglieder konsequent ab. Eine derartige Verschwörungstheorie überschätzt die Fähigkeiten und Macht staatlicher Organe und Behörden ebenso, wie sie zugleich den Kämpfern im Untergrund jegliche Überzeugungen und Fähigkeiten abspricht.
Aber man muss gar nicht nach Italien schauen, um eine Unterwanderung und Vermischung von Staatsschutz V-Leuten und ihren Führern und der Terrorszene zu beobachten. Unterwanderungsversuche und agents provocateur gab es in der BRD schon ab den Studentenunruhen 1968. Sie sind hinreichend dokumentiert. Die Strategie der Spannung, die von den italienischen Behörden seit 1970 aktiv betrieben wurde (und von anderen Staaten in Teilen übernommen), dazu die Existenz der geheimen Heimatschutzbrigaden GLADIO, die im Falle einer Besetzung Westeuropas durch den Warschauer Pakt Guerilla- und Widerstandsaktionen betreiben sollten, deuten ebenso in diese Richtung. Zum Kalten Krieg gehörte der Krieg der Staatssicherheitsorgane und der Geheimdienste und die Instrumentalisierung alle Protestformen und politischen Gruppen und Gruppierungen für die eigenen Zwecke.
Für FANAL gehe ich von einer teilweisen Unterwanderung der 3. Generation der RAF und ihrem Umfeld durch V-Leute und agents provocateur aus, die Anschläge befördert und eine Strafermittlung erschwert haben könnte. Diese Spekulation ist nicht nur aufgrund der Historie seit 1967 begründbar. Leider geben die Verwicklungen einzelner Verfassungsschutzämter in die NSU-Aktivitäten, ihre Unterstützerszene und nicht zuletzt deren Morde an Mitbürgern mit ausländischen Wurzeln ebenfalls Anlass zu solchen Überlegungen. (Die rechte Szene ist allerdings ein ganz eigenes, anderes Thema.)
MiC