FANAL – Leseprobe

Rieger pumpte zwei 9-mm Kugeln in die Brust des Angreifers. Der landete in einer Öllache und bekam eine dritte Kugel in den Schädel. Die beiden anderen Verfolger erreichten die Kreuzung. Für Sekundenbruchteile erhellte das Mündungs-feuer ihrer großkalibrigen Pistolen die Nacht. Geduckt überquerte Rieger die unbeleuchtete Straße und lief in eine schmale Gasse, vorbei an gammeligen Ölfässern, Haufen von grobem Schutt und stinkendem Müll. Schlieriges Wasser spritzte hoch. Er rutschte aus und schlug sich ein Knie auf. Parabellum-Projektile hämmerten über ihn hinweg ins Mauerwerk. Querschläger rissen Putz und ganze Ziegelstücke aus den Häuserwänden. Nur noch wenige Meter bis zum Eingang des Souks. Rieger kam wieder auf die Beine, feuerte blindlings auf seine Verfolger und humpelte hastig weiter. In der Nachricht des Schleusers stand, das Boot würde um zwei Uhr morgens auslaufen. Er musste sich beeilen. Aber konnte er dem Kerl noch trauen? Inzwischen wusste der halbe Libanon von dem Preis auf seinen Kopf …


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Es regnete unablässig. Rieger fror. Nur die Kälte oder schon eine Grippe im Anmarsch? Er schlug den Kragen hoch und schob die Hände tief in die Jackentaschen. Ansagen dröhnten durch die große, offene Halle. Routinemäßig erfasste sein Blick den Bahnsteig. Aus dem nahegelegenen Treppenaufgang erschienen Bundespolizisten, gefolgt von privaten Sicherheits-kräften in dunklen Uniformen. Rieger war kaum überrascht. Er hatte sich auf den aufgepumpten Sicherheitsapparat und die verschärften Kontrollen nach dem 11. September, besonders nach den misslungenen Kofferbomben-Anschlägen letztes Jahr eingestellt. Bullen und Kapos beäugten kritisch die zu den Ausgängen strömenden Reisenden und deren Gepäck: Koffer, Taschen, Plastiktüten, mit Bindfäden oder Gummizügen gesicherte Kartons. Rieger reiste nur mit einer Zahnbürste.

Er dachte: Besser nicht auffallen, zog seine Mütze tiefer ins Gesicht und mischte sich unter eine Rentnertruppe, die einer Frau mit einem Schild folgend zu den Treppen am anderen Ende des Bahnsteigs trottete. Auf den Stufen überholte er die Rentner und wandte sich unten nach links in Richtung Hinter-ausgang. Dort kontrollierten Bundespolizisten ein paar Jugendliche mit Protestschildern. Rieger las: „Ihr spekuliert mit unserem Leben“ und „Arm ist, wer arm macht“. Im Rücken der Bullenschweine verließ er den Hauptbahnhof auf der dem Dom abgewandten Seite.

Es war inzwischen dunkel geworden. Auf dem überfüllten Bahnhofsvorplatz duckten sich die Leute gegen den strömenden Regen, drängten mit aufgespannten Schirmen, mit heruntergezogenen Kapuzen, mit schützend über die Köpfe gehaltenen Aktentaschen an ihm vorbei. Sie alle telefonierten oder texteten oder starrten in die leuchtenden Monitore ihrer Smartphones. Aus zahllosen Ohrhörern tönten ihm schrille Höhen und dumpfe Bässe entgegen. Hörten sie den Soundtrack zu ihrem geilen Leben oder die endlosen Anfeuerungstiraden ihrer Erfolgsgurus? Jeder schien für sich allein in der Menge zu sein. Überall sah Rieger Isolierte, Verwirrte, Obdachlose und dachte: Da bist du wieder. Willkommen in Dunkelland.

Sein ganzer Besitz bestand aus einer goldenen Rolex Submariner als finanzielle Notreserve, einem alten Notizbuch mit kodierten Kontakten und Lageskizzen sowie zehn Euro in bar. Die hatte ihm ein Migrant mit verkrüppelten Händen geschenkt, dem er in Augsburg zwei jugendliche Neo-Nazis vom Halse schaffte. Im Nachhinein ärgerte er sich, die beiden glatzköpfigen Arschlöcher mit ihrem eigenen Baseballschläger an der Bushaltestelle verprügelt zu haben. Ein unnötiges Risiko. Es gab schließlich an jeder Ecke Kameras. Sicherheitshalber tauschte er in einem türkischen Secondhandladen seinen Lederblouson gegen eine abgeranzte Winterjacke und eine billige Mütze ein und nahm einen größeren Umweg Richtung Norden. Die Rolex trug er ab jetzt nur noch in der Hosentasche.

Das Sprit war genauso dreckig und düster wie in seiner Erinnerung. Am Tresen hingen ein paar erbärmliche Gestalten ab, die lallend gute Laune verbreiteten. Rieger blickte in lauter fremde Gesichter. Ein Glück. Er sollte nicht an alte Kampfstätten zurückkehren. Rieger trank ein Kölsch und zerpflückte zum hundertsten Mal die katastrophale Nummer in Beirut.

Als vor sechs Tagen das libanesische Militär die zweite Waffenlieferung für den syrischen Bürgerkrieg konfiszierte, fiel seine Halbwertzeit gegen null. Ihr Kunde, eine im Westen als gemäßigt geltende fanatische islamistische Miliz, stellte unmissverständlich klar: Ware her oder Geld zurück. Weil Rieger den Kontakt beim Militär rekrutiert hatte, bezichtigte sein langjähriger Geschäftspartner ihn des Betrugs. Die Syrer verlangten Riegers Kopf. Der Kontakt beteuerte auf Knien seine Ehrlichkeit, weigerte sich aber, das Bakschisch zu retournieren. Rieger kassierte das Geld und knallte ihn ab. Dumm, dass dein Kontakt unschuldig war. Er nahm sich seinen Geschäftspartner vor. Der gestand am Ende, den konfiszierten Container an eine rivalisierende syrische Miliz verscherbelt zu haben. Er knüpfte die Ratte auf und ließ es wie Selbstmord aussehen. Doppelt dumm, dass dein Geschäftspartner ein wertvolles CIA asset war, dachte Rieger noch, als die Amis ihn auf die Abschussliste setzten und eine hohe Belohnung ausschrieben. Er ballerte sich den Weg frei und floh nur mit dem, was er am Leibe trug.

Bis zum Autonomen Zentrum musste er viel zu lange durch die nasse Kälte traben. Hier bot die Küche nach wie vor billiges warmes Essen (große Portion Chili con Carne für zwei Euro), unten im Keller spielte eine Punkband. Noch so eine alte Kampfstätte. Sie bekam heute allerdings Zuschüsse von der Stadt, wie er auf einem Schild las. Subventionierte Antihaltung. Berichteten im Gegenzug die Mitarbeiter an den Verfassungsschutz? Auf einem Tisch vor dem Eingang zum Saal lagen CDs und Pamphlete aus, die über den Freiheitskampf im Chiapas aufklärten, dem sich die mexikanische Band verpflichtet fühlte. Spontan ballte Rieger die Revoluzzerfaust. Hasta siempre. Ein wohlig warmes Gefühl beschlich ihn, was aber auch an seiner ersten warmen Mahlzeit in zwei Tagen liegen konnte.

Drinnen war es heiß und stickig. Riff-Stakkatos knallten wie Maschinengewehrsalven. Er drängte an alten und jungen Punk-Fans vorbei zur Bühne. Der Sänger rotzte ins Publikum. Als der Pogo explodierte, war Rieger mittendrin, brüllte, schrie sich die Lunge aus dem Hals, rammte hart in seine Mittänzer. Nur ein Punkerpärchen hielt dagegen. Bald bildete sich ein Kreis um die drei wild zuckenden Freaks.

Diese Nacht verbrachte er bei dem Punkerpärchen und ihrer Schäferhund-Labradorhündin in einem Bauwagen auf einem besetzten Gelände. Gegenüber leuchteten die Lichter von zwei Laufhäusern, trostlose Verrichtungsklötze aus Beton mit roten Neonlampen in den Fenstern. Rieger verschwendete keine Gedanken an den Zustand der Welt, er benötigte eine Lösung für seine akuten Geldprobleme. Die Schäferhund-Labradorhündin spürte seine Unruhe und kuschelte sich an ihn. Am nächsten Morgen fand er in einer alten Kaffeedose 104 Euro, von den Punks zusammengebettelt, in Fünfern, Zehnern und Hartgeld. Rieger gönnte sich davon eine Übernachtung in einer billigen Absteige mit Dusche und drei Mahlzeiten. Er begann nach Georg zu suchen. Als er dessen neue Adresse ausfindig gemacht und ihn zur Sicherheit 24 Stunden observiert hatte, riskierte er die Kontaktaufnahme in einem Backshop. Georg frühstückte hier ein Croissant.

„Jan …?“ Er schaute entgeistert.

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