ARRIVERDERCI AMORE, CIAO – Roman als Aufklärung

Nach Jahren politischer Irrungen und Wirrungen, die ihn als Jugendlichen in den Terrorismus und später zu einer Guerillatruppe nach Lateinamerika führten, will Giorgio Pelligrini endlich eine normale bürgerliche Existenz. Natürlich in Wohlstand. Sein Weg dahin besteht nicht aus Reue und Läuterung, sondern aus Verrat, Betrug, Erpressung und vielen Leichen.

Es gibt keinen wirklichen investigativen Journalismus in Italien, sagt Massimo Carlotto und darum handeln seine Noir-Romane von einer häufig ausgeblendeten Realität: „Der mediterrane Noir-Roman erzählt große Geschichten, die von großen Veränderungen berichten, die anprangern was falsch ist, aber zugleich der Gier und der Gewalt eine Kultur der Solidarität als Alternative gegenüberstellen.“

In den 1970er Jahren engagierte Massimo Carlotto sich in der militanten linken Szene. 1976 fälschlich wegen eines Mordes verhaftet, den er nicht begangen hatte, entzog er sich dem Gerichtsverfahren und floh außer Landes. Er versteckte sich zunächst in Frankreich, später in Mexiko. Dort wurde er von einem mexikanischen Anwalt verraten und 1985 nach Italien überstellt. Sechs Jahre verbrachte Carlotto im Gefängnis. Sein Verfahren geriet zu einem langwierigen Rechtsstreit. 1993 begnadigte ihn der Staatspräsident. Der „Fall Carlotto“ gilt als einer der größten Fehlschläge der italienischen Justiz, in dessen Folge das italienische Strafrecht geändert wurde.

Massimo Carlotto

Angelehnt an seine eigene Biografie, schaut Carlotto in Arriverderci Amore, Ciao hinter die Kulissen des heutigen Italien, vor allem der Region Veneto im Nord-Osten.

Giorgio Pelligrini war jung und suchte Action, als er in den „anni di piombo“, den Jahren des Bleis, in den linksterroristischen Untergrund geriet. Er beteiligte sich an einem Anschlag, bei dem ein Wachmann ums Leben kam. Pelligrini und ein Genosse mussten außer Landes fliehen. Über Frankreich gelangten sie nach Südamerika. Nach einigen Jahren hatte Pelligrini jedoch vom Guerillaleben im Dschungel gründlich die Schnauze voll.

Wir lernen den Ich-Erzähler kennen, als er einen Landsmann exekutiert, der laut Aussage seines Comandante beseitigt werden muss. Dieser lapidare Satz und die Tatsache, dass Pelligrini ebenfalls Italiener ist und „Morde besser in der Familie“ bleiben, reichen als Grund, ihn mit der Hinrichtung zu beauftragen. Mit Hilfe einer „kurzbeinigen TV-Journalistin“ setzt Pelligrini sich bald darauf nach Costa Rica ab. Dort bandelt er mit der Chefin eines Hotels an, die ihm einen Job als Barkeeper und einen Platz in ihrem Bett gibt. Hier ist bereits das Muster für Pelligrinis weiteren Weg zu erkennen: Ein attraktiver Kerl fühlt sich vom Leben herumgestoßen, fremdbestimmt, von Männern in Abhängigkeit gebracht, benutzt er Frauen, um seine Ziele zu erreichen.

Arriverderci Amore, Ciao beschreibt eine Welt von fressen und gefressen werden. Jeder befindet sich im Kampf mit jedem. Wir erkennen Hobbes wieder. Zentrale Themen des Romans sind Macht, Dominanz und Willkür. Wer die Macht hat, kann Dominanz ausüben und seine Willkür auch ausleben. Dieses Spiel beginnt mit dem Comandante der Guerilla und setzt sich mit dem Leiter der Spezialeinheit Anneda sowie später seinem Anwalt Brianese fort. Pelligrini muss mitspielen, sich „prostituieren“, um zu überleben, geschweige denn seine Ziele zu erreichen. Im Gegenzug sucht er sich gezielt Frauen, die ihm bei seinem Aufstieg helfen können, über die er Macht ausüben, die er in Abhängigkeit bringen kann. Was mit charmantem Umgarnen beginnt, endet fast immer in Erpressung, Manipulation und sexuellen Perversionen.

Sex ist für Pelligrini gleichbedeutend mit Macht und dem Ausleben dieser Macht. Er will Frauen unterwerfen, sie vollständig dominieren und kontrollieren. Darüberhinaus dient Sex ihm zur Kompensation von Niederlagen und zur Kontemplation. Die besten Eingebungen für einen Gegenschlag oder seinen nächsten Schachzug, hat Pelligrini häufig in diesen Momenten absoluter Überlegenheit, in denen er hemmungslos seinen demütigenden, perversen Phantasien freien Lauf lässt.

Überhaupt werden in Pelligrinis Welt Frauen, egal ob Stripperinnen oder Ehefrauen, nach ihrem spezifischen Nutzen, ihrem Gebrauchswert ausgewählt und damit entmenschtlicht und zur Ware degradiert. Erbringen sie nicht länger die geforderte Leistung, werden sie einfach beseitigt. Gerne gewinnbringend, auf jeden Fall aber für immer. Verächtlicher geht’s kaum. Wie mehrdeutig ist es dann, dass alle Kapitel des Romans nach Frauen benannt sind?

Italienische Ausgabe

Ungeachtet wie niederträchtig und widerwärtig Pelligrini auch agiert, sein Verhalten spiegelt lediglich die italienische Gesellschaft wieder, der er angehören will. Die Gewalt und der Sadismus des Bullen Anneda, für den es anscheinend nur zwei Kategorien von Menschen gibt, miese Kriminelle und miese Kollegen, können noch als Folge des herrschenden Systems von Polizei und Justiz rationalisiert werden. Auch für die Kriminellen, mit denen Pelligrini verkehrt, selbst wenn es sich dabei um ehemalige Kampfgenossen aus Revoluzzer-Tagen handelt, gehören Macht und Gewalt zum Alltag, der geprägt ist von hohem Risiko, entsprechendem Misstrauen und Paranoia.

Der respektable Avvocato Sante Brianese hingegen, der Pelligrinis Rückweg in Gesellschaft ebnet, spielt in einer ganz anderen Liga. Er zeigt das wahre Gesicht der Gesellschaft und wie sie funktioniert. Er manövriert ein feines Netz von heuchlerischen Beziehungen, vermeintlich zum gegenseitigen Nutzen, von unausgesprochenen Abhängigkeiten und taktischen Gefälligkeiten. Nichts, aber auch gar nichts geschieht aus Freundschaft oder Mitgefühl. Alles hat seinen Preis und was nichts kostet, ist dementsprechend auch nichts wert. Konsequenz: Die gesamte Gesellschaft ist total korrupt – auf jeder Ebene wird mitverdient.

Pelligrinis Chance auf einen Neustart ist im Paragraphen 179 des italienischen Strafgesetzbuches verankert. Der lautet, fünf Jahre nach Verbüßen seiner Haftstrafe kann ein verurteilter Straftäter sämtliche Bürgerrechte zurückerhalten und damit wieder ein unbescholtenes Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft sein, vorausgesetzt, er hat sich zwischenzeitlich nichts mehr zu Schulden kommen lassen.

Brianese entwirft einen Plan, wie Pelligrini die ersehnte Freiheit erlangen kann. Das wird ihn viel Geld kosten und auf ewig in Abhängigkeit bringen. Für die Fassade des respektablen Bürgers, samt Restaurant und Ehefrau, muss Pelligrini sich vollends verkaufen, seine Seele hatte er ja schon lange verscherbelt. Am Schluss, als er kurz davor steht, es offiziell zu schaffen, droht ausgerechnet seine Verlobte, alles zu zerstören …

In Arrivederci Amore, Ciao ist das Böse systemisch bedingt, weil es jeden Einzelnen dazu nötigt mitzuspielen, will er nicht zum Spielball der Mächtigen werden und folglich untergehen. Allen romantischen Fiktionen zum Trotz, ist ein wirkliches Aussteigen aus dem, den gesamten Globus umspannenden Kapitalismus gar nicht mehr möglich. Das System zwingt jeden mitzumachen, weil es keine alternativen Lebensformen tolerieren kann. Der Charakter Giorgio Pelligrini personifiziert lediglich diese Form des systemischen Bösen in unserer Gesellschaft, damit es für den Leser mit wohltuendem Sicherheitsabstand erfahrbar wird.

Filmplakat 2005

Adam Kotsko, dem wir schon die brillante Analyse Why We Love Sociopaths – a guide to late capitalist television verdanken, spricht in seinem jüngsten Buch Neoliberalism’s Demons über die vermeintlich freie Wahl in unserer Gesellschaft. So sind vom System eng vorgegebene „Alternativen“ vom Einzelnen frei entscheidbar und werden damit in dessen moralische Eigenverantwortung übertragen. Natürlich muss der Einzelne die Konsequenzen seiner Entscheidung tragen, er hätte sich ja auch anders entscheiden können.

Beispiel: Wenn ich einen Facebook-Account habe und den Service von Facebook benutze, dann muss ich eben auf Persönlichkeitsrechte wie den Schutz meiner Daten verzichten. Niemand zwingt mich auf Facebook zu sein. Betätigt sich jedoch ein Großteil meines sozialen Umfelds auf Facebook und möchte ich Teil dieser Gemeinschaft bleiben, dann bin ich „gezwungen“ mich ebenfalls dort anzumelden. Kotsko nennt das entrapment, in die Falle locken. Der Köder lautet im Facebook-Beispiel „dazugehören wollen“.

„The key is the element of choice, though their choices were artificially constrained, they did choose to do what they did, and hence they are morally responsible for it.“ Adam Kotsko in einem Interview mit Jon Bailes, Blog State of Nature, 24.09.2018.

Das gilt auch für Giorgio Pelligrino, der selbtverständlich ein völlig amoralisches Arschloch ist, damit prototypisch für den Menschen in unserer neoliberalen Gegenwart steht. Er ist Übeltäter und zugleich Opfer. Ein zugegebener Maßen schwer zu akzeptierender Gedanke, der sein Handeln in keinster Weise entschuldigt. Dabei nimmt Pelligrini lediglich für sich in Anspruch, was allen Menschen nach materialistisch-bürgerlicher Vorstellung als erstrebenswert gilt: to be somebody. Jemand zu sein in dieser letztlich menschenverachtenden Gesellschaft, die er einmal bekämpft hatte und die ihn im Gegenzug als Feind bestrafte. Pelligrini ist der Außenseiter, der keiner mehr sein will, aber zugleich keinerlei Illusionen über diese Gesellschaft hegt. Darum zielt sein Denken und Handeln einzig auf die Erlangung dessen ab, was alle Gegensätze aufhebt und ihm seine Reintegration erst ermöglichen wird: Geld, viel Geld.

Außenseiter stand mir ins Gesicht geschrieben. Ich wollte mir eine Arbeit suchen, aber das war kein geeigneter Weg. Ich wäre für immer am Arsch, auf ewig eine arme Sau. Ich brauchte Kohle, um aus der Scheiße rauszukommen. Dann wäre ich angesehen und würde tipptop in Schale geschmissen, mit souveränem Siegerlächeln durch die Stadt flanieren.“

Arriverderci Amore, Ciao beschreibt den sozialen Aufstieg und die gesellschaftliche Wiedereingliederung des Giorgio Pelligrini in ungeschönter Brutalität. Bei den sexuellen Praktiken beschränkt sich der Ich-Erzähler auf vage Andeutungen, die Details bleiben der Phantasie des Lesers überlassen. Ist auch besser so.

Arriverderci Amore, Ciao, erschienen 2001 bei Edizione E/O, deutsche Ausgaben im Tropen Verlag, 2007, und als Heyne Taschbuch, 2008.

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