Beim Nachdenken über neue Helden und neue Geschichten habe ich mir Gedanken zu BÖSEWICHTEN gemacht …
Gutes Drama verlangt nach richtig üblen Charakteren. „The Villain makes the stoy“, rief uns Captain Jack Rackham in BLACK SAILS entgegen, dessen Traum ein Roman über sein Leben war, denn damit würde er unsterblich. Seliges 18. Jahrhundert. Unsere Welt wurde durchs Fernsehen und den 24-Stunden-Nachrichtenzyklus, der sich im Internet auf 24 Sekunden reduziert zu haben scheint, komplett verändert. Jetzt spielen alle auf der großen globalen Bühne für ihre Unsterblichkeit. Drehen wir ebenfalls richtig auf und nehmen uns die bösesten der Bösen vor …
DIE OBERSCHURKEN FÜR DIE GALERIE
Die Perversen habe die Macht ergriffen. Das verspricht gigantisches Entertainment. Der PHILPPINO-SCHLÄCHTER mordet unter dem Vorwand der großen Drogensäuberung die Armen in den Slums; der FASCHO-BRASILIANER lässt Schwule und Lesben jagen und fackelt den gesamten Amazonas ab; DICKES RAKETENBÜRSCHCHEN meuchelt Verwandte und schießt vorgenannte Flugobjekte ins Meer; der PISSBLONDE erklärt aller Welt den Handelskrieg, droht Iran und Venezuela mit echten Waffengängen und verkündet, er sei der Auserwählte; der CHINESISCHE KAISER auf Lebenszeit konditioniert sein Volk im größten pawlowschen Sozialexperiment der Welt, wer dagegen ist, kommt ins Umerziehungslager; der HINDU-NAZI tötet Muslime und Sikhs, schluckt Kashmir und droht Pakistan; der KORRUPTE TÜRKE jagt Kurden und die Presse; der MOSKAUER ERLÖSER lässt Stalin auferstehen und seine Hacker am großen Eurasischen Reich Russischer Nation arbeiten … habe ich wen vergessen? Ach ja, die LIGA der MINITYRANNEN: Johnson, Farage, Salvini, Höcke, Weidel … gibt bestimmt noch viel mehr, ist aber egal.
Gemein ist ihnen allen eine völlig überhöhte Selbstdarstellung. Sie inszenieren sich als superheroes in einem feidseligen Universum, das sie als gottgleiche auserwählte Retter braucht.
Und noch etwas haben alle vorgenannten und nicht vorgenannten Bösen gemein: Eine traumatisierende Kindheit.
WIR BASTELN EINEN BÖSEWICHT
Okay, dafür ist eine traumatisierende Kindheit wirklich unerlässlich. Das beste daran, das Kind ist nicht einmal verantwortlich. Absolution von Anbeginn. Denn es sucht sich seine Eltern, deren Stress, Probleme und Nöte nicht aus (die diese wiederum von ihren Eltern vermacht bekamen). Medizinischer Fakt: Das menschliche Hirn, die Nervenbahnen und Schaltkreise formen sich bereits beim Heranreifen des Fötus im Mutterleib. Wenn ein Kind geboren wird, liegt daher schon die ganze pränatale Erblast auf seinen schmalen Schultern.
Je größer der im Mutterleib erfahrene Stress, desto stärker die Beeinträchtigung. Da spielen die genetischen Anlagen nur eine untergeordnete Rolle. Nach der Geburt geht’s gleich weiter: Wessen Eltern emotional nicht verfügbar sind, wer in schwachen sozialen Verhältnissen aufwächst oder in zerrütteten Familien, bei Letzteren macht reich oder arm wenig Unterschied, hat’s gleich noch schwerer.
Unsere emotionalen Schaltkreise bilden sich in Wechselwirkung mit unserer frühkindlichen Umwelt aus. Unsere Eltern und unsere Familien (oder der Mangel an solchen) bestimmen unsere Traumata. Leben müssen wir und unsere Umgebung damit bis zum Ende unserer Tage.
Den kleinen Psycho, der seine Lieben quält und weiter keinen Schaden anrichtet, bekommt die weite Welt nicht zu spüren. (Als ob er in der Familie nicht genug anrichten würde.)
Den großen Psychopathen hingegen registriert die Welt schon.
Denn kommt der Außenseiter, über den alle lachten, den niemand ernst nahm, viel zu vulgär, primitiv und peinlich, an die Macht, dann kippt er seine ganzen Störungen über die Welt aus. Da spricht der Pissblonde in seiner Antrittsrede vom American carnage, dem amerikanischen Schlachten, und der Rückkehr zu alter Größe; da versprechen Putin, Modi, Bolsonaro, Duterte neue nationale Macht und Herrlichkeit, was natürlich Blutzoll bei den ausgewählten Sündenböcken erfordert. (Faschos und Nationalisten brauchen immer Schuldige, Hauptsache, die sind in der Minderheit und damit ungefährlich und leicht zerstörbar.)
Lächerliche Inszenierungen der Eitelkeit werden zu großen Ereignissen stilisiert, um den eigenen Minderwertkeitskomplex zu kompensieren. Die unerträglichen News führen uns den täglichen Wahnsinn vor. Schließlich geschieht das alles in aller Öffentlichkeit, in den sozialen Netzwerken und anderen Medien. (Von wegen Likes, Trending und Ratings.) Die Perversen nähren das perverse System und umgekehrt.
N.B. Verdeutlicht die unmittelbare Koppelung von Profit und Perversität nicht die Perversität des Profits?
VON DER POSSE ZUM POWERPLAY
Das Gegenteil der Prahlerei ist eine übersteigerte Empfindlichkeit, ständig fühlt man sich verletzt, beleidigt, missachtet. Wer dem Führer nicht huldigt, ihn gar abblitzen lässt, den trifft dessen Groll mit aller Macht.
Beispiel: Die Insel Grönland kaufen zu wollen, um z.B. dort ein goldenes Hotel zu bauen, ist eine relativ harmlose Groteske. Die Ablehnung des Wunsches führt zu Beschimpfungen und Aufschiebung eines Staatsbesuches. Was, wenn der verschmähte Kindskopf nun auf die Idee käme, die Insel mit der 7. Flotte zu annektieren? Könnte er theoretisch, militärische Macht wäre ja genügend vorhanden. Und was, wenn’s Stimmen im Wahljahr brächte? Auf einmal keine so abwegige Aktion mehr, oder? Wetten, sie wird bereits erwogen?
DIE TRAUMATISIERTE GESELLSCHAFT
Bis hierhin können wir ja alle die Köpfe schütteln oder ungläubig lachen. Aber was sagen die Psychopathen, die sich an die Macht wählen lassen, über uns und unsere Gesellschaft aus? Eine psychiatrische Diagnose fördert Erschreckendes zu Tage. Die Mächtigen sind das Spiegelbild unserer Gesellschaft: entfremdet, depressiv, süchtig, voll unterdrückter Wut, die nach Ventilen sucht.
Die breite Masse wählt diese Perversen nicht trotz, sondern gerade wegen ihres abnormen Verhaltens. Es ist ein Ausdruck von Wut und Rache gegenüber einem System, das sie missachtet und demütigt. Sie sind von ihrer Lebensrealität traumatisiert. Der dicke Stinkefinger gegen die Herrschenden richtet sich allerdings schnell gegen sie selbst. Die wahren Ursachen der Wut- und Rachegefühle sind nämlich systembedingt. Haben die Perversen erst einmal die Macht, dann stützen sie nicht nur dieses System, sie treiben es auf die Spitze und beschleunigen damit den allgemeinen Niedergang (bis zum Untergang, wie die Geschichte lehrt).
Wir erkennen beim Wähler suchtähnliches Verhalten wieder: Für das kurze Glücksgefühl des Wahlsieges ihres Favoriten spielen langfristige schädliche Konsequenzen keine Rolle. (Sie würden ohnehin negiert.) Das Suchtmuster trifft ebenso auf unsere gesamte Konsumgesellschaft zu: Für unsere Bequemlichkeit und kurzfristige Bedürfnisbefriedigung spielen die nicht zu leugnenden tödlichen Folgen für unsere Umwelt und unsere eigenen Lebensgrundlagen keine Rolle. Drogen werden genommen, um den Schmerz eines Traumas nicht mehr zu spüren. Wir anderen brauchen Konsumartikel, damit wir uns besser fühlen.
N.B. Warum fühlen wir uns überhaupt schlecht?
Ein Trauma ist eine Reakion auf ein als massive Störung erfahrenes Ereignis. Die Ursachen eines Traumas liegen außerhalb von uns: in der Gesellschaft. Das hatte Émile Durkheim schon 1897 in seinem Buch Suicide eindrucksvoll dokumentiert. Damals untersuchte er das Phänomen Selbstmord und stieß auf die Auswirkungen der Industriealisierung auf die Landbevölkerung Frankreichs. Herausgerissen aus ihren vertrauten Lebensgemeinschaften mussten sie als Industriearbeiter unter unsäglichen Bedingungen schuften. Das Resultat, die Menschen fühlten sich entwurzelt, ohnmächtig und isoliert. Sie litten unter Angstgefühlen, Wut und Verzweiflung. Mit anderen Worten, sie waren schwer traumatisiert, was zu der überproportional hohen Selbstmordrate führte.
Wie fühlen wir uns angesichts einer Welt, in der wir nichts kontrollieren können, einem Dauerbombardement von Schreckensnachrichten ausgesetzt sind, abhängig von der Willkür der Märkte? Verängstigt, ohnmächtig, wütend?
Was lässt sich angesichts der in Echtzeit ablaufenden Umweltkatastrophe aus unseren Reaktionen, wie Leugnung, Aktionismus, Eskapismus, Apathie anderes schließen, als dass wir in einer völlig traumatisierten Gesellschaft leben?
N.B. Am Ende wählen wir unsere Repräsentanten, haben es also mit selbstgewähltem Elend zu tun.
Eine Erkenntnis, die Distanz und nüchterne Analyse voraussetzt. Also die Entkoppelung des Verstandes von unseren Gefühlen. Und genau darin liegt die Crux.
IDEOLOGISCHER SELBSTBETRUG
Die Perversen an der Macht rechtfertigen ihre grausamen Taten mit den hehren Zielen, welche selbstredend ihre Mittel heiligen. Welche Ziele sind das? Alles, was ihrem Ego schmeichelt: Macht, Reichtum und Glorienschein.
Ziele, die wir mehr oder weniger für uns selbst in Anspruch nehmen und rationalisieren: Macht wird mit persönlicher Freiheit zum selbstbestimmten Leben gleichgesetzt; Reichtum mit finanzieller Freiheit, sich leisten zu können, was man sich leisten will. Und der Glorienschein? Ein Blick auf unsere Selbstdarstellung in den sozialen Medien – die fiktiven Persönlichkeiten, die wir dort präsentieren – zeigt, wie es um unsere Psyche bestellt ist. Was sind Auftritte in sozialen Medien anderes als reines Produktmarketing für unser Ego?
Ego: Konkurrenzkampf, Auslese, Elite, die Stärksten setzen sich durch … Diese vermeintlich ewige Wahrheit über die menschliche Natur, beweist eine ideologisch sehr beschränkte Sicht auf die Spezies Homo sapiens. Sie ist Ausdruck unserer großen Entfremdung von uns selbst und dem Leben als Ganzes.
N.B. Wer die Natur zerstört, der ist von ihr entfremdet und psychisch krank.
DIE BÖSEWICHTE SCHLAGEN
Die längste Zeit der Menschheitsgeschichte haben wir in kleinen Gemeinschaften von Jägern und Sammler gelebt. In denen es vielleicht persönliches Eigentum gab, das was man selbst tragen konnte, aber kein Privateigentum, denn alles andere gehörte allen, es war Eigentum der Gemeinschaft. Sie brauchte es zum Überleben. Diese Gruppen waren deutlich größer als die Kleinfamilien unserer Zeit. Ihre Kinder wuchsen in stabilen Gefügen auf, was ihre Entwicklung lenkte und sie zum vollwertigen Teil der Gemeinschaft heranreifen ließ. Das hat unsere Spezies geprägt: Wir sind soziale Wesen, die einander vor allem zum Leben und nicht nur zum Überleben brauchen. Die Basis unserer menschlichen Existenz ist in Wahrheit Teilen und Zusammenarbeit. Natürlich war das damalige Leben nicht paradiesisch, sondern hart, vielfach unerbittlich und häufig kurz. Säbelzahntiger hin oder her.
FRAGE: Was können wir für unsere Gegenwart und Zukunft (haben wir überhaupt noch eine?) daraus lernen?
Zwei Worte: Entfremdung traumatisiert.
Ein Blick auf die aktuelle Lage und die größten Probleme macht deutlich, dass die Wurzeln des Übels in einem hemmungslos übersteigerten Ich liegen. Wenn der Einzelne sich über andere stellt oder dazu gezwungen wird, weil alle Anreizsysteme sein unsoziales Verhalten honorieren (dem Sieger gebührt alles, ist das Grundprinzip profitorientierten Handelns), dann ist die Entfremdung von der Gemeinschaft offensichtlich. Der Einzelne steht in Konkurrenz zu allen anderen.
Der umgekehrte Fall bedeutet, nicht der Einzelne für sich alleine zählt, sondern die Gemeinschaft, in die jeder Einzelne sich einbringt. Er ist damit nicht länger vereinzelt (entfremdet), vielmehr ein unverzichtbarer Teil des Ganzen. Aus Konkurrenz wird Kooperation. Das Ich im Wir.
Und das beglückt offensichtlich, sonst würde sich nicht alle Welt nach Gemeinschaftserlebnissen sehnen, in denen das Ego temporär überwunden wird. (Weshalb der Missbrauch dieses zutiefst menschlichen Bedürfnisses durch rechte Populisten so widerlich ist. Die von diesen Perversen propagierte Gemeinschaftsidentität des Volkes beruht auf Hass und gezielter Ausgrenzung.)
In extremen Situtionen bei Unglücken, Überschwemmungen, Bränden oder Kriegen, erleben wir diesen starken Gemeinschaftssinn: miteinander für einander. Warum folgen wir dem nur in existenziellen Ausnahmefällen?
NEUE GESCHICHTEN
Neue Geschichten erfordern somit einen bewussten Perspektivwechsel. Sie beschreiben das Leben nicht aus der Perspektive derer, die den Idealen der zerstörerischen vorherrschenden Ideologie nachhängen, sondern jener, die sich davon befreien wollen oder befreit haben. Und das schafft keiner allein. Es bedarf einer Gemeinschaft. Solche Geschichten sind daher subversiv, denn die Aufgabe der vorherrschenden Ideologie und ihrer Mythenperpetuierer ist es, jegliche Hoffnung zunichte zu machen. Und genau das gilt es mit aller Entschlossenheit und Konsequenz zu bekämpfen.
Mein Lieblingsbeispiel für diese neuen Geschichten ist die HBO-Serie DEADWOOD von David Milch (2004-2006), die sehr bewusst den Konflikt von Konkurrenz und Kooperation zeigt. Milch hat nach den Anschlägen des 11. September 2001 versucht, den Aufbau einer Gesellschaft, das Finden von Konsenz und die Bildung einer Gemeinschaft in einem rechtsfreien Raum und einer Situation mörderischen Konkurrenzkampfes, dem Goldrausch in Deadwood 1877 auf Indianergebiet zu erzählen. Wir erleben exemplarisch die Entwicklung der USA als monströsen Eroberungsfeldzug des Kapitalismus. Every sentiment becomes an article of commerce (alles wird zur Ware). Deadwood ist eine Krankengeschichte traumatisierter Gestalten, die ihre Perversionen, Gewaltexzesse und Zerstörungslust hemmungslos ausagieren. Die Größe der Serie liegt in ihrer Widersprüchlichkeit und ihrer Menschlichkeit. Milch öffnet uns die Augen, er beschönigt nichts und zeigt zugleich, dass unser Gefühl der Vereinzelung, unsere Entfremdung, nur eine Illusion ist. Our feeling of separatesness is fundamentally an illusion.
(Seine wenig bekannte Serie JOHN FROM CINNCINATTI (2007) beschäftigt sich noch viel stärker mit individuellem Trauma.)
LINK zu einer hervoragenden Reflexion über DEADWOOD …
Inspiriert wurde bei ich diesen Überlegungen zudem von Dr. Gabor Maté, hier ein LINK zum Einstieg. Wirklich empfehlenswert …