Aus einem aktuellen Projekt . . .
Kaum war er seinen Häschern in Beirut entkommen, schlug Rieger sich nach Tripolis durch und wartete auf die Nacht.
Die wenigen Straßenlaternen entlang der Uferstraße verströmten einen matten gelben Schein. An der Kaimauer waren Fischerboote vertäut, die sich dunkel gegen den Nachthimmel abzeichneten. Rieger wartete unter einer zerschlissenen Markise. Er hatte seine Haare blond gefärbt und seinen Bart abrasiert. In Lederblouson und Chinos glich er wieder einem durchschnittlichen Europäer. Nach zwanzig Minuten hörte er schließlich Stimmen. Zwei tiefe und eine hellere. Drei Männer marschierten wenige Schritte entfernt an ihm vorbei. Sie bemerkten ihn nicht.
Als sie in eines der Fischerboote stiegen, blickte Rieger auf seine goldene Rolex Submariner. Gleich müsste das Zeichen kommen. Richtig. Wenig später leuchtete der Lichtpunkt einer Taschenlampe auf. Dicht neben der Hauswand hergehend näherte Rieger sich dem Anleger. Erst als er aus dem Schatten des Gebäudes trat, konnten die Männer auf dem Boot ihn erkennen. Einer der Fischer winkte mit der Taschenlampe. Rieger eilte herüber, sprang an Deck und glitt unter eine angehobene Plane. Der Motor startete. Die Schraube kam auf Touren. Leinen los.
Das Boot legte ab und steuerte hinaus aufs Mittelmeer.
Später lupfte er die Plane etwas an und sah die schmaler werdende lichtgesprenkelte Küste des Libanon. Entfernt waren die Positionslampen mehrerer Fischerboote auszumachen. Er kroch unter der Plane hervor. Sie hielten unverändert Kurs aufs offene Meer. Außerhalb der Dreimeilenzone würde er auf ein anderes Schiff wechseln. Rieger musterte die Fischer. Der Käpt’n am Ruder hatte eine fleischige Gewichtheberstatur. Er trug eine Hornbrille. Der zweite Fischer war zwanzig Jahre jünger. Er hatte von seinem Vater die kurzen Beine und die Kurzsichtigkeit geerbt, weniger die Muskeln. Junior machte sich an den Netzen zu schaffen. Der dritte Mann an Bord war dürr und schlecht rasiert. Er rauchte nervös und blickte aufs Wasser. Der Käpt’n sagte etwas. Kurz darauf bot sein Sohn Rieger einen šay ʿarabiyy an.
„Shukran“, sagte Rieger höflich und nahm das Teeglas.
Obwohl sie ihn nicht weiter beachteten, lag eine seltsame Anspannung in der Luft. Ein altes psychiatrisches Gutachten attestierte Rieger Verfolgungswahn. Na und? Paranoia hieß der Titel seiner Lebensversicherung. Darauf konnte er sich verlassen.
Der Bootsmann hatte inzwischen die vierte oder fünfte Kippe gequalmt, als er seine Hände in Riegers Hals krallte und versuchte, ihm die Kehle zu zerdrücken. Gleichzeitig umklammerte Junior Riegers Beine. In der Hand des Käpt’n blitzte ein großes Fischmesser auf. Rieger schlug dem Bootsmann eine Faust auf den Kehlkopf. Er ließ röchelnd von ihm ab. Der Käpt’n stach in dem Moment zu als Rieger seine Beine anzog, um Junior abzuschütteln, und jagte seinem Sohn die Klinge in die Schulter. Junior heulte auf. Rieger bekam ein Bein frei. Mit voller Wucht trat er dem Käpt’n gegen das linke Knie. Die Kniescheibe sprang heraus, der Käpt’n fiel hintenüber und verlor das Messer. Als der Bootsmann danach griff, schoss Rieger ihm mit der Browning in den Bauch. Der Bootsmann krümmte sich zusammen, Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor. Junior wimmerte vor Schmerz.
„Bring ihn um“, schrie der Käpt’n seinen Sohn an.
Rieger jagte dem Wichser eine Kugel ins Herz und zielte auf Junior. Der junge Mann war wie erstarrt. Der Käpt’n lehnte mit leeren Augen an der Bordwand. Rieger hatte Würgemale am Hals. Er dachte: Schon fünf Kadaver im Schlepptau und du bist noch nicht mal außer Landes.
Ein greller Scheinwerfer nahm Kurs auf sie. Bestimmt ein Patrouillenboot der Küstenwache. Rieger zwang Junior den Motor zu starten und Gas zu geben. Gegen ein Patrouillenboot hatte ein Fischerboot in der Regel keine Chance. Doch dies hier war ein Schmugglerboot mit einem leistungsstarken Motor. Sie entfernten sich immer weiter von der Küste und waren bald außerhalb der Dreimeilenzone.
Die Küstenwache gab die Verfolgung auf.
Nach einigen Ohrfeigen packte Junior aus. Rieger würde von keinem anderen Schiff aufgenommen werden und der Treibstoff reichte nicht die 270 Kilometer bis Zypern. Offenbar ein amüsanter Gedanke.
Junior grinste. „Fährst du zurück, wirst du krepieren, fährst du weiter, wirst du krepieren. Du wirst krepieren.“
„Du auch“, sagte Rieger ebenfalls auf arabisch.
Er verarztete ihm die Schulter und deckte die Plane über die beiden Leichen. Dann befahl er, Kurs auf Zypern zu nehmen. Er konnte nur gewinnen. Schließlich wurde es hell. Rieger prüfte Treibstoff, Proviant und Trinkwasser, bevor er das Rettungsboot klarmachte. Er beförderte die Leichen hinein und beorderte den jungen Mann, seinen Vater nach Hause zu bringen. Junior weigerte sich in das Gummiboot zu steigen. Rieger half nach und warf ihm die Ruder hinüber. Eines landete auf dem Wasser.
Rieger hatte genau beobachtet, wie der junge Mann das Boot steuerte und setzte seine Fahrt fort. Der Treibstoff ging rasch zu Neige, der Proviant war bald verbraucht. Ohne Trinkwasser trieb er auf dem offenen Meer.