Am Ende von DESPERADO kam Roland Burget wieder einmal mit dem Leben davon und gelangte über abenteuerliche Umwege nach Westafrika.
„Etwas Besseres als den Tod, findest du überall“, sagte Trotzki zu dem Mann, der sich Roland Burget nannte, in dem kleinen, heruntergekommen Café am Strand von Dakar.
Im Allgemeinen ignorierte Burget banale Schlussfolgerungen. Auch jetzt schwieg er und ließ zum wiederholten Male einen unauffälligen Blick durch den kleinen schattigen Raum wandern. Paranoia gehörte seit längerem zu seinen auffälligsten Charaktermerkmalen. Er bevorzugte allerdings den Begriff Vorsicht. Die beiden Weißen waren die einzigen Gäste. Draußen im grellen Licht der Sonne fegte der Barkeeper die Terrasse. Fünfzig Meter weiter, rollten die Wellen des Atlantiks in rhythmischen Abständen auf den leeren Strand. Für einen kurzen Moment wich die Anspannung aus Burgets Körper.
„Hier ist die Situation“, sagte Trotzki, „ein kleines westafrikanisches Land, der Name ist nebensächlich, wurde von seiner Kolonialmacht in die Unabhängigkeit entlassen. Das war in den 1960-ziger Jahren Zeitgeist, wie du weißt. Der erste Präsident des neuen unabhängigen Staates richtete sich schnell mit seiner Macht ein und regierte wie allgemein üblich vor sich hin: Ein bisschen Angst und Schrecken, ein bisschen persönliche Bereicherung, ein bisschen Günstlingswirtschaft, dazu reichlich wirtschaftlicher Freiraum für die ehemalige Kolonialmacht. Das Land war zu klein, zu arm und zu unbedeutend, als dass besondere Begehrlichkeiten geweckt würden. Eine relativ friedliche, sichere Sache für den Präsidenten, die beinahe dreißig Jahre lang gut ging.“
„Nicht unbedingt üblich, auf diesem Kontinent“, sagte Burget.
„Einen ähnlichen Gedanken musste auch ein ehrgeiziger Emporkömmling gehegt haben, der es trotz seiner Jugend schon bis zum Chef der Militärpolizei gebracht hatte“, führte Trotzki weiter aus, „frei nach dem Motto, was der Alte kann, kann ich auch. Also versicherte sich der Emporkömmling der loyalen Gefolgschaft seiner unmittelbaren Untergebenen und einiger Offiziere anderer Truppenteile und putschte sich unblutig die Macht. Der alte Präsident war offenbar zu schwach, zu satt oder einfach nur zu müde, jedenfalls dankte er ab und ging ins Exil. Wo er kurz darauf, vielleicht unter mysteriösen, vielleicht aber auch unter ganz banalen Umständen – wer weiß das schon – verstarb. Inzwischen fand der neue Machthaber großen Zuspruch bei der Jugend. Die zog tagelang freudestrahlend, laut seinen Namen skandierend durch die Straßen der Hauptstadt. Glaubte sie nämlich, dass der Machtwechsel genau der richtige Zeitpunkt wäre, endlich ein paar längst überfällige Reformen, wie persönliche Freiheit, soziale Gerechtigkeit, und so weiter, zu verwirklichen.“
„Im Ernst?“
„Im Ernst. Nur hatte der neue Machthaber offenbar weder Zeit noch Lust dazu. Er war vielmehr damit beschäftigt, seine Macht zu konsolidieren. Loyale Mitstreiter wurden präventiv verhaftet und des Hochverrats angeklagt. Demonstrationen wurden verboten. Als die Sympathie der Massen in Enttäuschung und Wut umschlug, schlugen Polizei und Geheimdienst los. Sämtlicher Widerstand wurde niedergeknüppelt und, wenn das nicht ausreichte, niedergeschossen. Vermeintliche Rädelsführer wurden festgenommen und robust verhört, wie man das heute nennt. Einige überlebten die Tortur sogar. Nach drei, höchstens vier Wochen, war der letzte Widerstand gebrochen und das eingeschüchterte Volk dankbar, sich nun wieder gänzlich dem alltäglichen Überlebenskampf widmen zu dürfen. Wer wollte und konnte, der ging ins Exil. Der Rest hielt die Klappe und den Kopf schön tief unten.“
Trotzki lächelte seinen Gegenüber an.
„Spann mich nicht unnötig auf die Folter, Genosse.“ Burget trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte.
„Unser junger Präsident übernimmt ein paar bewährte Regierungsregeln seines Vorgängers, er betreibt Propaganda in eigener Sache, lässt sich loben und preisen und regelmäßig demokratisch bestätigen. Draußen in der Welt gibt er den modernen Staatsmann, engagiert seine Truppen in UN-Missionen auf dem afrikanischen Kontinent. Ob seines unermüdlichen Bemühens um Frieden, Freiheit und Wirtschaftlichkeit, ist er bei IMF, Weltbank und Vereinten Nationen wohl gelitten. Er darf sogar einmal zu einem Fototermin ins Weiße Haus und sich ein persönliches Lob vom US-Präsidenten abholen. Weißt schon, von diesem grinsenden Verkäufer, den alle so liebten. Unser afrikanischer Präsident ist ein wahrer Musterführer mit einem wahren Musterstaat. Und weil er eifrig sein eigenes Vermögen vermehrt, fällt sogar etwas Wohlstand für das Volk ab.“
„The trickle down effect in action“, sagte Burget.
„Die Hoffnung auf Brosamen hält gefügig.“
„Und jetzt will man diesen Wohltäter abservieren?“
Trotzki machte eine vielsagende Geste. „Ich wurde angesprochen“, sagte er nach einem Moment.
Woraufhin Burget nichts sagte. Vom Strand drang Möwengeschrei herüber. Auf der Straße fuhr ein Auto vorbei. Hinter der Theke brummte ein großer Kühlschrank. Seine zerkratzte Glastür und die abgeblätterte, rot-weiße Farbe versprachen nur noch wenig vom angeblichen „get the feeling“ der US-Getränkemarke für die Welt.
Nach einigen Sekunden des Schweigens sagte Trotzki: „Im Ausland gibt es eine Handvoll Exilgruppen. Ihre Arbeit beschränkt sich in der Regel auf humanitäre Hilfe für Angehörige und Freunde in der Heimat. Einige leisten politische Aufklärung, betreiben Lobbyarbeit, engagieren sich in Menschenrechtsorganisationen. Sie verfassen Petitionen und sammeln Geld bei Wohltätigkeitsveranstaltungen. Andere betreiben Online-Zeitungen und Blogs, die minutiös die Missstände und Menschenrechtsverletzungen in der Heimat anprangern. Manchen ist das zu wenig. Allein auf einen Machtwechsel zu hoffen, reicht ihnen nicht mehr. Sie wollen den Machtwechsel aktiv herbeiführen.”
„Wer sind sie?“
„Sagen wir, gewisse Persönlichkeiten aus der Diaspora, die an einer Veränderung der politischen Situation interessiert sind und zudem bereit, dafür finanzielle und persönliche Opfer zu erbringen.“
„Damit endlich Freiheit und Menschenrechte in ihre Heimat einziehen können“, sagte Burget und musste unwillkürlich grinsen, „du redest von einem Staatsstreich.“
„Ich denke eher an eine Revolution von oben“, sagte Trotzki.
„Diese Leute aus dem Ausland wollen also einen Coup d’Etat in ihrer Heimat finanzieren? Wie viele Jahre ist der Wohltäter an der Macht?“
„Über zwanzig.“
„Zwanzig Jahre. Und wer macht sonst noch mit? In der Heimat, meine ich. Das Militär? Die Gewerkschaften?“
„Es gibt keine Gewerkschaften.“
„Keine Form von Organisation, auf die man zurückgreifen könnte?“
„Nur Militär, Polizei und Geheimdienst. Der Rest sind ein paar religiöse Gemeinschaften. Eher unbedeutend.“
„Nicht mal radikale Islamisten?“
„Alle friedlich. Ein guter muslimischer Staat.“
„Meine Güte, wie naiv ist denn deine Diaspora-Klientel? Ohne organisierte Unterstützung im Land funktioniert das nie.“
Trotzki presste die Lippen zusammen. Er schien zu überlegen, ob er besser aufstehen und gehen sollte.
„Willst du dir anhören, was ich zu sagen habe oder stehle ich dir etwa wertvolle Zeit?“ sagte er stattdessen.
Trotzki nannte sich schon lange nicht mehr Trotzki, sondern Mr. Leon. (Der Einfachheit halber wollen wir ihn jedoch weiterhin bei seinem alten Kampfnamen nennen.) Nach verschiedenen erfolglosen Missionen als Revolutionär, darunter enttäuschende Einsätze in Afrika, sowie in Mittel- und Südamerika – die mexikanischen Zapatistas beendeten seiner Meinung nach viel zu früh den bewaffneten Kampf und konzentrierten sich auf lokale Basispolitik, und die kolumbianische FARC machte lediglich mit spektakulären Entführungen von sich reden und führte einen Stellungskrieg im Dschungel, ohne sichtbare Fortschritte zu erzielen – lernte Trotzki in Panama eine US-Amerikanerin kennen. Die frisch verliebten heirateten noch am Urlaubsort und er folgte seiner Frau in das Land der Freien und der Tapferen. Dort ergatterte Trotzki eine Greencard und fand kurz darauf einen Job als Ausbilder auf einem Schießstand. Hier traf er auf die Diasporakämpfer, als diese den Umgang mit automatischen Waffen erlernten. Schnell wurde Trotzki ihr bevorzugter Ausbilder, und erweiterte schon bald auf vielfachen Wunsch das Training um Gefechtsschießen, Übungen im Gelände und Häuserkampf. Als sie ihn fragten, ob er auch Fallschirmspringen könne, wurde sein Interesse geweckt.
Bei einem nächtlichen Gelage am Abend ihres dritten oder vierten Sprungtages, weihte Dambene, ein reicher Unternehmer und offenbar selbsterklärter Anführer weil Finanzier der Truppe, ihn schließlich in das Vorhaben der Diasporakämpfer ein. Trotzki hörte lange zu, stellte dann und wann präzise Fragen und zerlegte, nachdem die Afrikaner ausgeredet hatten, ihren Plan. Was sie vorhätten, wäre ein Coup d’Etat, auf den sie sich kläglich vorbereiteten wie Amateure. Genauso würde er auch enden, vorausgesetzt, sie kämen überhaupt bis in die Hauptstadt.
„Man wird euch erwarten und euch massakrieren“, sagte Trotzki, „und wenn ihr sehr viel Glück habt, gibt es einen Schauprozess, dann können eure Familien Beobachter von Menschenrechtsorganisationen und Anwälte mobilisieren. Vielleicht werdet ihr dann nicht zum Tode verurteilt und falls doch, wird es vielleicht nicht vollstreckt, weil ihr ein wertvolles Tauschgut seid. Sofern der Wohltäter euch als solches erachtet.“
Natürlich hörten die Diasporakämpfer diese ernüchternden Wahrheiten nicht gerne, einige wollten sich sofort von Trotzki trennen, andere gaben zu bedenken, er wisse zu viel, woraufhin vorgeschlagen wurde, ihn zu töten, nur dann könne man sicher sein, dass er auch nichts verrate. Trotzki ordnete die überhitzten Reaktionen der Afrikaner auf seine Ausführungen dem reichlichen Alkoholkonsum zu.
Am nächsten Morgen standen zwei verkaterte aber durchaus nüchterne Diasporakämpfer vor seiner Tür, um sicherzugehen, dass er auch wirklich schwieg. Dem einen brach Trotzki das Nasenbein und dem anderen einen Daumen. Dann fuhr er mit ihnen zum Dambene und ließ die ganze Truppe zusammentrommeln.
Im Konferenzraum erklärte er den Diasporakämpfern, wie man einen Coup d’Etat richtig durchführt. Am Ende seiner Ausführungen angelangt, die mit anschaulichen Beispielen aus der Praxis und eigenen Erfahrungen im bewaffneten Kampf unterstrich, ohne dass er es für nötig erachtete, seine tiefsten politischen Überzeugungen zu erwähnen, gehörte Trotzki nicht nur zum Kreis der Verschwörer, sondern wurde zu ihrem militärischen Anführer ernannt. Im Innersten verachtete Trotzki seine Mitstreiter als liberale Kapitalisten. Obwohl sie sich unpolitisch gaben, unterstützten sie bedingungslos das Motto ihrer Heimat: Fortschritt, Frieden, Wohlstand. Von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten war nirgendwo die Rede.
Warum überhaupt den Wohltäter stürzen, wenn er doch buchstabengetreu das Motto mit Leben erfüllte? Trotzki wusste die Antwort. Sie lautete: Um selber die Macht zu erlangen. Und genau das war auch der Grund, warum Trotzki sich von ihnen anwerben ließ. Er hatte seine eigene revolutionäre Vorstellung von der Zukunft des kleinen westafrikanischen Musterstaates. Die selbsternannten Freiheitskämpfer waren für ihn willkommene Mittel zum Zweck. Dambene ließ Champagner auffahren. Die Verschwörer sahen einander tief in die Augen, gelobten Treue bis in den Tod und stießen auf den Erfolg ihres Coup d’Etats an.
Burget sagte: „Smile, smile and be a villain. Und jetzt brauchst du dringend einen Dummen, der euch rüberfliegt?“
Trotzki reichte ihm die Hand.