Die Kneipe stinkt nach abgebranntem Tischfeuerwerk, kalten Büfettresten und abgestandenem Alkohol. Das Neue Jahr ist keine sechs Stunden alt. Draußen herrscht Dunkelheit, in den Hirnen der letzten Gäste Funkenschlagen . . .
Proleten-Philosoph Max Säger und sein Thekennachbar, dessen Namen Säger gleich wieder vergessen hat, starren auf ihre bleichen Gesichter im Spiegel hinter den vielen Gin-Flaschen. (Gin ist auch 2020 voll angesagt.)
Säger rülpst. Es klingt wie: „Australien steht in Flammen und alle Welt schaut zu. Nebenbei, im Amazonas und in Indonesien brennen die Wälder weiter. Aber das ist ja nicht mehr in den Nachrichten. Und die Reaktion der Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft? Wir müssen mehr für die Umwelt tun. Klar doch. Nur hat das Zeit bis 2050. Der Gipfel in Madrid im Dezember hat wieder einmal bewiesen, wie ernst es ihnen ist: überhaupt nicht.“
Der Thekennachbar grinst. Er hat die Welt schon lange durchschaut. Seitdem trinkt es sich leichter.
„Der BMW-Vorstand wehrt sich dagegen, den SUV zu verteufeln“, hört Säger sich reden, „kein Wunder, an der Kiste verdienen sie gut. Diese Panzer für Privatleute sind hoch im Kurs. Ein Fahrzeug, das die Insassen schützt … danach kommt höchstens noch der Leopard II.“
„Gibt es den schon als Zivilfahrzeug?“ Der Thekennachbar kichert. „Ich habe einen Panzerführerschein.“
„Das wäre doch ein Geschäft. Wenn heute Flachhirne ihre Boliden in Tarnfarben über die Straßen jagen können, dann wäre ein bunter RAL-Farbenfächer doch das Mindeste für die neue Baureihe der Zivilpanzer. Schick, der neue Leo mit den rosa Ketten und der quietschgelben Bordkanone, die jeden Assel auf Distanz hält. Das gefällt nicht nur der Gattin, sondern auch den Kleinen. Darauf kommt es schließlich an, wie wir uns fühlen.“
„Gefühle lügen nicht“, gibt der Thekennachbar zu Bedenken.
„Von wegen Gefühle lügen nicht. Wir sind ja ach so empfindlich in unserem Narzißmus. Klar lügen Gefühle, und wie. Gefühle sind verkürzte Reaktionsprozesse des Körpers. Nur ein paar grundsätzliche sind angeboren, die anderen werden entwickelt“, doziert Säger, „wenn das Bezugssystem falsch ist, dann sind auch Gefühle, Reflexe und Instinkte falsch. Ist doch logisch. Es gibt nichts Richtiges im Falschen. Darum: Wer so blöde ist und allein seinen Gefühlen vertraut, seinen Instinkten und Impulsen, der kapiert nie, was wirklich abgeht. Die Medien, die Politiker, die Industrie, alle wollen ihre Agenda durchknüppeln. Die bescheißen uns rund um die Uhr, 24 Stunden am Tag, und wir regen uns auf, wenn die Bahn Verspätung hat oder der Kaffee kalt ist oder das Bier schal.“
Kopfschütteln beim angetrunkenen Thekennachbarn, er greift zu seinem Bierglas. „Soweit lasse ich’s gar nicht kommen.“
„Was das für dich heißt?“, brüllt Säger, der nie richtig hinhört, was andere sagen, „ganz einfach, du musst sehen, wie die Dinge wirklich ablaufen, nicht einfach die Storys glauben, die man dir erzählt. Du kannst nur bei einem sicher sein, niemand erzählt dir die Wahrheit. Hinter jeder Aussage steckt eine Absicht. Nein, nicht alle lügen, zumindest nicht immer bewusst. Die Arschgeigen sind häufig authentisch, von ihrer eigenen Selbsttäuschung völlig überwältigt – und darum so gefährlich.“
Der Thekennachbarn nuckelt wieder am Pils und versucht sich seinen Teil zu denken. Fällt schwer. Er gibt es schließlich auf.
Säger spricht laut zur leeren Kneipe: „So funktioniert Ideologie, eure spontane Reaktion ist vorn herein beeinflusst, eure Gefühle und Reflexe sind nichts als konditionierte Ideologie. Weit bevor ihr überhaupt beginnt nachzudenken, hängt ihr schon am Fliegenfänger. Sie bomben euch so sehr mit Scheiße zu, dass ihr gar nicht anders könnt-“
„Als was können?“, fragt der Wirt, der mit zwei Kringelwürsten, die wie ausgehärteter Hundekot aussehen, die Küche verlässt.
„-als zu tun, was ihr spontan tut.“ Dann knallt Säger einen Bierdeckel auf das schrundige Holz, er ist viel betrunkener als es den Anschein macht. „Hier, ihr Blitzbirnen, damit ihr was zum Knobeln habt fürs Neue Jahr.“
Auf dem Bierdeckel, unter dem Logo der Gerstensaftmarke, steht in klitzekleiner Schrift:
1
Freiheit in unserer Gesellschaft ist die Freiheit des Konsumenten. Sie ist beschränkt auf die Wahl zwischen vorgegebenen Alternativen.
2
Fundamentale Freiheit, die Bestimmung der Gesellschaftsform, existiert nicht.
3
Die (eingeschränkte) Freiheit des Konsumenten ist nur mittels Geld zugänglich, entweder eigenes Geld (Vermögen) oder fremdes Geld (Schulden).
4
Eigenes Geld wird ererbt oder durch Teilnahme am Wirtschaftssystem erworben.
5
Vermögen zu erben ist leichter als Vermögen zu erwerben. Das Erbrecht ist zementiertes Unrecht.
6
Fremdes Geld wird gewährt (Kredit). Es ist eigenes Geld auf Zeit und gegen Entgelt (Zinsen).
7
Schulden sind die wiederentdeckte Form der Versklavung. Sie müssen zurückgezahlt werden, egal wie und egal um welchen Preis.
8
Deutschland ist wieder geteilt. Dieses Mal teilt es sich in zwei Klassen: in Habende und in Habenichtse. Beide Klassen trennt mehr als nur Geld. Sie trennt das Glück. Wer nichts hat, hat nicht einmal Glück.
„Was sollen denn das für Neujahrsvorsätze sein?“, fragt der Wirt.
„Ich habe nie Glück, meine Alte vögelt mit Bernhard und der FC steigt auch wieder ab“, jault der Thekennachbar, der nur den letzten Satz entziffern kann.
„Pass bloß auf, dass du nicht gleich absteigst“, grunzt der Wirt in eine Kringelwurst beißend.
„Glückliches 2020. Für das Feuerwerk sorgt der Pissblonde, der wird seinen Krieg mit dem Iran beginnen, damit er im Amt bleibt. Und die feigen Europäer werden wie immer tatenlos zuschauen.“ Säger leert sein Bierglas und kippt dabei hintenüber.
Der Thekennachbar blickt in sein Dummphone, mal sehen was die asozialen Medien ihm an Eskapismus offerieren. Die zeigegeile und willige Uschi räkelt sich nur 1,7 Kilometer entfernt alleine auf dem Sofa, liest er. Das Neue Jahr fängt super an.
Noch ’n Nüchternmacher, um den Arsch runter vom Hocker und zur Uschi zu wuchten . . . play it louder: