Rieger hat gefährliche und irritierende Begegnungen . . .
5
Die Polizistin sah zu Rieger herüber, die Hand unverändert am Griff der Pistole.
Aus den Augenwinkeln verfolgte er die Bullen. Sie blockierten seinen Fluchtweg. Er war unbewaffnet. Zu dumm, dass er seine Browning BDA auf Zypern zu Geld machen musste. Unauffällig umschlossen die Finger seiner rechten Hand den Tellerrand. Er würde den Mann zuerst erledigen, den Teller zerbrechen und ihm eine Scherbe in die Kehle rammen, danach die Frau ausschalten, ehe sie ihre Waffe ziehen oder Verstärkung alarmieren konnte. Die beiden oder er. Die Schweine ließen ihm keine andere Wahl. Er lauerte auf ihre kleinste verräterische Bewegung.
In diesem Moment wandte die Polizistin ihren Blick von ihm ab und trat neben ihren Kollegen. Sie musterte die belegten Brötchen, Baguettes und Gebäckstücke in der Vitrine. Der Polizist bestellte zwei Kaffee zum Mitnehmen, die Polizistin ein Hörnchen. Der Weg war frei. Rieger ließ sein halbgegessenes Ei-Brötchen liegen, wischte sich Mund und Hände mit der Serviette ab. Im Hinausgehen stellte er wie jeder Gast seinen Teller und Kaffeebecher auf ein Tablett mit benutztem Geschirr. Auf der Straße parkte ein Streifenwagen in zweiter Reihe. Er war unbesetzt. Die Bullen drehten offenbar ihre gewöhnliche Runde und legten eine Frühstückspause ein.
Bevor Rieger abbog prüfte er, ob ihm jemand folgte.
Später am Nachmittag blieb er vor den Schaufenstern einer Kunstgalerie stehen. Ihre weißgestrichen hohen Räume waren hell erleuchtet und mit Street-Art dekoriert. Reproduktionen in streng limitierter Auflage, zum Teil Einzelstücke, alle handsigniert von einem Starkünstler namens Exxkrement. Sein übergroßes Portrait zeigte einen ausgemergelten Kerl mit Tattoos, Piercings und neongrünem Irokesen. Hier war ein Alchimist, der die Scheiße der Straße zu Gold verwandelte. Rieger hatte noch nie von ihm gehört. Eine schlanke Frau mit kurzen blondierten Haaren telefonierte stark gestikulierend, betrachtete dabei einzelne Werke, als würde sie einem Interessenten deren besondere künstlerische Einzigartigkeit schildern oder ihm den Wert als Geldanlage schmackhaft machen. Sie besaß die Figur einer disziplinierten Fitness-sportlerin und trug kaum Make-up. Er hatte nicht gewusst, dass sie sich für Kunst interessierte. Rauke war Georgs Ex und Paulis Mutter. Sie hatten früher viel miteinander gebumst. Rieger ging nicht hinein.
Nach mehreren Schleifen und Umwegen erreichte er gegen 18:50 Uhr die Straße, in der Georg wohnte.
6
Das Gebäude war dunkel, nur in der dritten Etage gab es ein paar helle Fenster. Rieger drückte auf den Knopf neben dem Namensschild und musste einige Zeit warten, bevor der Türsummer ertönte. Im Treppenhaus ging das Licht an. Er betrat den Hausflur und blieb im dunklen Kellereingang stehen, bis die Lampen im Treppenhaus erloschen waren. Dann stieg er die Stufen zur dritten Etage hinauf.
Die Wohnungstür war angelehnt. Er trat ein und schob sie hinter sich zu. Eine Dusche rauschte. Ein Oberlicht im Flur war erleuchtet. Dort befand sich das Badezimmer.
Rieger inspizierte die weiteren Räume. Das Wohnzimmer war spärlich möbliert und besaß keinen Fernseher. Dennoch eindeutig eine Männerwohnung, dazu die Bude eines Intellektuellen, kaum Pflanzen, stattdessen überquellende Bücherregale. In einem anderen Raum stand neben einem schmalen Bett ein von Büchern und Papieren überladener Schreibtisch. Es schien Georgs Arbeits- und Schlafzimmer zu sein. Dann war da ein Jugendzimmer. Ein großes französisches Bett, an der Wand eine schwarze Fahne mit einem roten Anarchie-Symbol, auf dem Schreibtisch ein Computer und zwei Bildschirme. Bestimmt Paulis Bude. Der vierte Raum war eine knapp zwei Meter breite Abstellkammer voller Umzugskartons. Ein schmales Fenster zeigte nach vorn zur Straße hinaus, davor lehnte ein altes Klappbett. Ausreichend, befand Rieger.
Er ging in die Küche und zog die Vorhänge zu, ehe er Licht machte und sich auf einen Stuhl setzte. Auf dem Tisch lagen ein Schlüsselbund mit einem Band zum Umhängen, eine Schachtel Marlboro und ein billiges Feuerzeug. Im Aschenbecher waren Zigarettenstummel mit blutroten Lippenstiftspuren. Das Rauschen der Dusche endete. Rieger legte die Hände auf die Tischplatte. Er hatte die meiste Zeit seines Lebens mit Warten verbracht, mit Beobachten, Nachdenken, Planen, Vorbereiten und noch mehr Warten. Die eigentlichen Aktionen dauerten häufig nur Sekunden, höchstens einige Minuten. Außer Entführungen. Aber die gingen oftmals schief, es sei denn man bewegte sich in einem unübersichtlichen Gebiet im Dschungel, in den Bergen oder im Wirrwarr eines Slums.
Eine Frau, keine zwanzig Jahre alt, kam in die Küche. Bis auf ein um den Kopf gewickeltes Handtuch war sie völlig nackt.
„Oh …“, sagte sie, für einen Moment überrascht, „ich dachte, es ist Paul. Er hat seinen Schüssel vergessen.“
Sie deutete mit dem Kinn Richtung Schlüsselbund.
„Und ich dachte, du bist Georg“, sagte Rieger und fügte hinzu, „Jan.“
„Mila“, sagte die junge Frau.
Sie fingerte eine Zigarette aus der Schachtel, zündete sie an. Sie rauchte völlig unbefangen im Stehen, die Arme unter ihrem kleinen Busen verschränkt. Rieger vermied es, ihren Körper direkt anzuschauen.
„Mit Georg verabredet?“
Er nickte. Ihre Brüste gefielen ihm. Das entging Mila nicht, es gefiel ihr.
Sie sagte: „Ich habe dich hier noch nie gesehen.“
„War auch länger nicht da.“
„Knast aber nicht?“
„Passt das zu meiner Strandbräune?“
„Es gibt auch Arbeitslager im Freien.“
„Nicht in Deutschland“, sagte Rieger.
„Meinetwegen. Dafür im Süden. Und warste?“
„Ganz schön neugierig. Überleg mal.“ Er lächelte.
„Gefallen dir meine Titten?“ Mila reckte sich vor.
Ehe Rieger etwas erwidern konnte, läutete es.
„Das ist jetzt Paul.“ Mila drückte ihre Zigarette aus und ging in den Flur. Sie hatte blau-gelbe Flecken auf ihrem Rücken. Abklingende Blutergüsse.
„SM oder Folter?“, fragte Rieger laut.
„Ganz schön neugierig. Überleg mal“, rief Mila aus dem Flur.
Rieger hörte den Türsummer und kurz danach wie sich die Badezimmertür schloss. Das Geräusch eines Föhns drang bis in die Küche. Er wartete erneut. Einige Zeit darauf wurde die Wohnungstür aufgestossen und wieder zugeschlagen. Ein magerer, bleicher Junge mit dunkler Brille und wirren, in die Stirn hängenden Haaren, schleppte eine Kiste Bier und zwei Flaschen Cola herein. Er stellte die Kiste auf den Tisch, sah Rieger einen langen Moment an.
„Dich kenne ich.“
„Würde mich wundern. Du warst höchstens fünf.“
„Trotzdem.“
„Bist groß geworden, Pauli.“
„Bleibt nicht aus“, sagte der Junge, nahm eine Flasche Cola, öffnete sie und trank einen großen Schluck. „Paul übrigens. Was machst du hier?“
„Hat dein Vater nichts gesagt?“
„Georg hasst Handys. Was trinken?“
„Wasser.“
„Keine imperialistische Brause?“ Er meinte die Cola.
Rieger musste grinsen. Paul holte ein Glas aus dem Schrank und füllte es mit Wasser aus dem Kran. Als Mila wieder hineinkam, hatte sie sich angezogen und die langen, dunklen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie trug teure Designerklamotten. Ihre Augen waren schwarz geschminkt, ihre Lippen blutrot wie die Lippenstiftspuren auf den Zigaretten-stummeln im Aschenbecher. Sie legte Paul eine Hand in den Nacken und gab ihm einen Zungenkuss. Eine Show für Rieger.
Paul löste sich von ihr. „Das ist ein Freund von Georg.“
Ein schüchterner Junge, ganz der Vater, dachte Rieger.
„Er heißt Jan, behauptet er jedenfalls.“ Mila steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und öffnete mit dem Feuerzeug eine Bierflasche.
Paul begann mit der Zubereitung des Abendbrots.
„Als ich klein war, tauchte der Typ ein paar Mal bei uns auf. Heimliche Besuche, meistens abends oder nachts. Ich hab durch den Türspalt gelauscht.“
„Immer mit der Angst, erwischt zu werden, was?“ Rieger nahm sein Glas.
„Wovor sollte ich Angst gehabt haben?“, fragte Paul.
„Bist also doch ein Krimineller“, sagte Mila.
Rieger trank einen Schluck Wasser und sah Mila in die Augen. Sie streckte ihm die Zunge aus.
Paul hob die Bierkiste vom Küchentisch. „Ich hab geahnt, dass mit ihm was nicht stimmte. Georg konnte gut abwiegeln, hat immer gesagt, das träumst du nur.“
„Das war auch richtig so“, sagte Rieger.
Mila qualmte eine Kippe nach der anderen. Sie trank als einzige Bier. Rieger musterte das komische Pärchen: Paul war ein intelligenter Grübler und rebellischer Nerd im Pennerlook, qualvoll um Lässigkeit bemüht; Mila ein materialistisches Girlie, das auf sexuell-provokant machte, bestimmt um es ihrem reichen Papi zu zeigen. Sie kostete seine diskreten Blicke aus. Die war Gift auf zwei Beinen.
„Der Typ ist voll der Spanner“, sagt Mila zu Paul und leckte sein Ohrläppchen.
. . .