In deinem neuen Roman geht es um das Duell eines Sheriffs gegen einen Fleischfabrikanten . . .
Das ist der Fahrstuhlpitch, zwischen Tiefgarage und Erdgeschoss, falls der Interesse weckt, kannst du auch weiter ausholen: Ein korrupter Polizist landete in der Provinz, weil er von einem der reichsten und mächtigsten Männer freigekauft wurde, damit er ihm als legaler Ausputzer dient. Der Roman erzählt die Kollisionen der beiden und die sich daraus ergebenen Konsequenzen.
Du hattest mir mal erzählt, du würdest häufig über mögliche „deutsche Geschichten in klassischen Noir-Settings“ nachdenken.
Diese Spielchen habe ich eine Zeit lang gerne gemacht.
Was kam dabei heraus?
Unter deutschen Geschichten in Noir-Settings kann man sich etwas vorstellen, wenn du beispielsweise einen Privatdetektiv wie, jetzt aber ganz weit zurückgegriffen, Philip Marlowe von Raymond Chandler nimmst. Der Privatermittler ist ein tradiertes Noir-Setting das deutsche Autoren seit Jahrzehnten durchstreifen.
Der hat dich aber weniger interessiert?
Gar nicht. Bei meinen eigenen Spielereien blieben drei oder vier unterschiedliche Noir-Settings übrig, die sich meiner Meinung nach hierzulande erzählen lassen. Von denen interessierten mich am meisten eine Sheriff-Figur wie die wahnsinnigen Protagonisten eines Jim Thompson. Ich stamme selbst vom Dorf und unser damaliger Dorfpolizist, wir hatten tatsächlich einen in der Gemeinde, wurde von allen Jugendlichen nur „Sheriff“ genannt: Sheriff Schulz.
Einen Sheriff gibt es bei uns in Deutschland nicht.
In meiner Phantasie schon. Klar, gibt es ihn nicht als offizielle Berufsbezeichnung. Aber damals waren im Fernsehen halt US-Western-Serien ungeheuer populär und deshalb der Spitzname.
Warum keinen normalen Ermittler?
Bloß nicht! Krimi per se ödet mich furchtbar an. Nichts finde ich langweiliger als einen Ermittler, der die bürgerliche Ordnung wiederherstellt. Diese „Kämpfer für Gerechtigkeit von Berufswegen“ sind zu einem völligen unerträglichen Zerrbild verkommen. Da war Dürrenmatt 1949 mit seinem Kommissar Bärlach schon Höhe- und zugleich Endpunkt im deutschsprachigen Raum. Was natürlich eine sehr anfechtbare persönliche Meinung ist.
Inwiefern?
Schau dir mal die Storylines an. Der Richter und sein Henker, ein alter, kranker Kommissar bringt ein Drecksschwein zur Strecke, dass er mit regulären Methoden nie kriegen könnte. Oder Das Versprechen, ein Kommissar verspricht einen Kindermörder zu schnappen und das Schicksal greift in einer Art und Weise ein, die sich nicht mit gelernter Genredramaturgie in Einklang bringen lässt.
Darüber habe ich mich schon mehrfach ausgelassen. In der Regel doktern deutsche KommissarInnen (so viel Correctness gehört angesichts unserer Ermittler-Landschaft hierher) lediglich an den Erscheinungsformen des Systems herum, die das Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft stört. Man geht stillschweigend davon aus, dass diese Welt bei aller Verwerfung gut ist, weil alternativlos, und die KommissarInnen schaffen das bisschen Gerechtigkeit, damit man auch morgen noch aufstehen möchte. Die ErmittlerInnen sind, unabhängig davon, wie sie ihre Fälle lösen und welchen persönlichen Preis sie auch immer dafür bezahlen mögen, weder konsequent noch radikal. Sie liefern einen vom Christentum geprägten Erlöserkitsch der elendsten Sorte ins Haus. Was meiner Meinung nach nichts als systembestätigender Blödsinn ist und von den Machern natürlich so beabsichtigt.
Weil die grundlegenden Fragen niemals adressiert werden?
Sachlich betrachtet sind Polizisten als Vertreter der Staatsgewalt mit einer ungeheuren Machtfülle ausgestattet, wobei ihnen neben den legalen Mitteln theoretisch auch das komplette Spektrum zur Verfügung steht, also die rechtliche Grauzone und auch illegale Mittel. Letztere beiden werden häufiger angewendet als Normalbürger und Normalpolizisten meinen. Denn je mächtiger, d.h. organisierter die Kriminellen sind, desto mehr tendiert die Polizei dazu, ihre Methoden zu verschärfen, will sie nicht hoffnungslos ins Hintertreffen geraten (was sie hierzulande bei der Organisierten Kriminalität seit vierzig Jahren oder länger bereits ist). Warum werden sonst alle Nase lang die Sicherheitsgesetze und Möglichkeiten der Polizei verschärft? Beispiel das unsägliche Polizeigesetz, das von Bayern aus in die Republik getragen wurde. Wollte man richtig böse sein, dann könnte man sagen, die diskret angewendeten Praktiken müssen irgendwann halt legalisiert werden. Diese Entwicklung finde ich aus demokratisch freiheitlicher Perspektive bedenklich. Die gesellschaftlichen Verwerfungen und deren Ursachen werden konsequent ignoriert, weil alternativlos, die Bekämpfung der Erscheinungsform (OK, Terror, etc.) wird immer drakonischer.
Polizisten interessieren dich eher aus der Perspektive eines absoluten Außenseiters innerhalb der Behörde?
Jemand, der potenziell ebenso kriminell ist wie die Typen, gegen die er ermittelt. Der vielleicht einmal angetreten ist, das Böse zu bekämpfen, sich mit Sendungsbewusstsein und missionarischem Eifer in den Dienst gestürzt hat. Welche inneren und äußeren Konflikte durchlebt so ein Charakter? Welche Widerstände muss er überwinden? Was verbindet so einen Typen am Ende noch mit der realen Polizei? Gibt es etwas, das ihn im extremen Stadium tatsächlich von Kriminellen unterscheidet? Wenn ja, was ist es? Unter welchen Umständen treten diese Unterschiede zutage? Und zuletzt die entscheidende Frage: was geschieht dann?
Dein Protagonist, Polizeihauptkommissar „Sheriff“ Brock, ist so ein Charakter, auch wenn wir Leser ihn spät in seiner Entwicklung kennen lernen.
Brock würde sich als gefallenen Idealist bezeichnen, wenn er wirklich zu einer Reflexion fähig wäre, der sich den Realitäten angepasst hat und sie konsequent für sich ausnutzt. Seine kriminelle Energie ist fehlgeleiteter oder frustrierter Idealismus, aber genau der Grund, warum er den Job in dem Kaff bekam, der Kleinstadt, die de facto dem Fleischfabrikanten gehört.
Bei DESPERADO ist das zentrale Thema die völlige Ausbeutung Afrikas durch kriminelle Warlords …
… befördert durch Politiker, Großmächte, internationale Konzerne und Organisationen.
In FANAL ist es der Terrorismus als ständige Bedrohung des Systems, den jede Seite für sich und ihre Ziele nutzt und was das über unsere Gesellschaft aussagt …
… und das Thema von KÖNIG DER KADAVER sind die tatsächlichen Kadaver in einer der, meiner Meinung nach, widerlichsten Branchen, gepaart mit einigen der ekeligsten Ausgeburten unserer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realität. Für mich ist das ein drastisches Beispiel unseres völlig pervertierten Rechtsverständnisses gegenüber der Industrie im Allgemeinen, und dieser Industrie im Besonderen, das sowohl in Brüssel als auch in Berlin und in den deutschen Landeshauptstädten gleichermaßen hochgehalten wird.
Ich komme noch einmal auf die Frage nach den Vorbildern in dem Genre-Setting „Sheriff“ zurück?
Was ist damit?
Wie verhält es sich bei dem Roman?
Es gibt keine direkten Vorbilder außer der angesprochenen Ausgangsidee, einen deutschen Dorfpolizisten, in diesem Fall einen Leiter einer Polizeiwache, die nur tagsüber besetzt ist, zu einer Sheriff-Figur mutieren zu lassen. Ich habe dafür allerdings weder in einen Thompson noch in irgendwelche anderen Romane erneut reingelesen, sondern nur die Fleischwirtschaft recherchiert, um ein besseres Verständnis von dem Geschäft zu bekommen – zu dem was ich ohnehin schon wusste. Mit Landwirtschaft und Viehwirtschaft hatte ich in meiner Jugend Berührung, ich kannte Schweinezüchter und Kopfschlächter aus dem Schlachthof. Als nächstes habe ich dann bewusst mit Parallelen zum Western gearbeitet.
Das heißt?
Der Leiter der Polizeiwache ist als Sheriff natürlich ein stark aufgeladenes Genreklischee und der Fleischfabrikant ist der Fleischbaron aus einem US-Western, damit ebenfalls ein Genreklischee.
Ich habe beim Lesen spontan gedacht, deine Charaktere scheinen Stereotypen des Italo-Westerns nachempfunden zu sein …
Stimmt.
… deren Macher wiederum die Stereotypen des US-Western nachempfanden, dazu politisch aufluden und mit perversen Twists versahen.
Die große Zeit des Italo-Westerns waren die späten 1960er und frühen 1970er. Der Western ist laut Sam Peckinpah ein Genre, in dem man jede Art von Geschichte erzählen kann. Die italienischen Regisseure wie Leone, Corbucci, Sollima, Damiani (und deren Autoren) haben häufig aus ihrer politischer Haltung keinen Hehl gemacht, die von antikapitalistisch-anarchistisch bis offen kommunistisch reichte. Sie hatten geniale politische Sachen in dem Genre untergebracht, andere würden sagen, opportunistisch den damaligen Zeitgeist bedient (was auch nicht ganz falsch ist). Ich hab mich vor 20 Jahren oder so intensiv mit Italo-Western beschäftigt. Ein Genre, das ich damals nur unzureichend kannte, welches zu dem Zeitpunkt aber bereits ein Vierteljahrhundert lang tot war. Zum Teil wirklich großartige Filme dabei, obwohl die Mehrzahl unansehbarer Trash ist, wenn man die Streifen nicht historisch betrachtet. Sie wurden meistens schnell für schnelles Geld gedreht.
Was interessiert dich besonders an dem Thema Fleischindustrie?
Die totale Perversion und Verdinglichung: Die Ausbeutung allen (fleischlichen) Lebens zum Profit von wenigen Unternehmen und Einzelpersonen, die dafür auch noch bewundert und umworben werden, und dann die Herausforderung, wie man das in einer hoffentlich spannenden, provokanten Geschichte erzählt. Die Fleischindustrie ist eine Metapher für unser gesamtes System. Dessen Folgen für den Planeten und uns alle, gerade in Krisenzeiten besonders offensichtlich werden.
Wie stark ist die Realität in deine Fiktion eingedrungen?
Alles in der Geschichte ist Fiktion, die Handlung sowie sämtliche Charaktere sind völlig frei erfunden. Die Recherche diente mir dazu, die Ereignisse als „durchaus möglich“ in der Vorstellungswelt der Leser zu verankern. Jeder hat irgendwie irgendwo etwas gehört. Stichworte wie: Gammelfleisch, Viehtransporte, Leiharbeiter, Tierquälerei.
Du sagtest mir vorhin, du hättest zum ersten Mal einen Ich-Erzähler?
Ja, und die Entwicklung war wirklich überraschend für mich. Ich hatte aufgrund meiner Drehbucherfahrung automatisch in der dritten Person begonnen, fand das aber irgendwie nicht gut, wechselte dann in die erste, dann wieder zurück in die dritte und wieder in die erste. Insgesamt bestimmt vier oder fünfmal hin und her, bevor ich nach einer mehrmonatigen Pause, und der Entwicklung anderer Romane in der dritten Person mich wieder diesem Stoff zugewandt habe. Ein neues Buch zu beginnen und durchzuschreiben ist bislang immer ein nervenaufreibender Vorgang, vor allem, wenn die erste Euphorie über den Stoff verpufft ist und es zäh wird, hadere ich extrem mit mir und dem Text. Bestimmt die üblichen Neurosen eines Schreibers, der sich selbst zu wichtig nimmt.
Was waren denn deine großen Hürden beim Schreiben?
Eine große Nähe zu dem Ich-Erzähler Brock. Weil mich aber gerade seine andauernde Selbsttäuschung interessierte, frei nach Zizek, „die Vorstellung, die wir von uns selbst haben ist grundsätzlich eine Lüge“, stellte sich die Herausforderung, wie erzähle ich das, ohne das (latente) Wissen eines allwissenden Erzählers? Das Problem der Nähe habe ich schließlich damit zu lösen versucht, in dem ich alle Ideen, Notizen und Vorarbeiten in der 3. Person gemacht habe, Beispiel: Brock trifft sich mit dem Metzger (so sein Spitzname für den Fleischfabrikanten) und nur für das tatsächliche Schreiben der Kapitel in Brocks Erzählerstimme und damit seine innere Gedankenwelt wechselte. Brock erzählte mir die Geschichte, wie er sie erlebt hatte, ich schrieb sie so betrachtet nur auf. Macht das Sinn?
Der Roman liest sich wie ein schneller, schmutziger Film.
Dazu hat mich Garth Ennis inspiriert. Als der vor ewigen Jahren den Punisher schrieb, freute ich mich jedes Mal auf das Trade – die gesammelten Heftausgaben in einem Band. Dann habe ich mich aufs Sofa gehauen und mir das Buch wie einen Film reingezogen. Die Storys pulsierten nur so vor Action, Humor und Drama, dazu wie in Cinemascope gezeichnet. Das war für zwei, drei Stunden lang ein geniales Eintauchen in eine irre Story – viel besser als Kino, weil ich meinen eigenen Rhythmus beim Lesen fand und nicht von den unerträglichen Hollywood-Manien genervt wurde.
So etwas wollte ich in Romanform schaffen. KÖNIG DER KADAVER soll wie ein Film ablaufen, aber die Vorzüge eines Romans besitzen, wie die direkte Verbindung zum Leser und die besondere Intimität mit dem zentralen Charakter auf mehreren Ebenen: seinen Gedanken vs. seinen Dialogen vs. seinem Handeln und daraus resultierenden Widersprüchen und Fallstricken. Darum erschien mir der Ich-Erzähler, die Übereinstimmung von Inhalt der Geschichte und ihre Form, genau richtig: Brocks Mischung aus Selbstverständlichkeit, Ignoranz, Irrtum und Lügen, die völlig Entlarvung seiner Person, die sich mit der Geschichte entfaltet. Seine Wortwahl, sein Rhythmus, was er für erzählenswert erachtet und was er zunächst weglässt. Das alles verrät viel über seinen Charakter.
Was kommt als nächstes?
Ich hoffe, dass der Roman beim Leser Gefallen findet.
Ich meinte als nächstes Projekt?
Frei nach Monty Python: And now something completely different.
Bei einer Flasche Four Roses im Gedenken an das Schicksal von Georges Gerfaut mit einem veralteten I-Dings 5 aufgezeichnet.