Die Strategen der politisch Verantwortlichen betrachten potenzielle Wählerschichten genau und schneidern die Kampagnen ihres Kandidaten auf die für sie erreichbaren Zielgruppen zu. Sie streben die Mehrheit in den ausgewählten Wählerschichten an. Die Mehrheit der abgegebenen Stimmen im zweiten Wahlgang will auch Oberbürgermeisterin Hohmann erzielen. Ihr Berater muss sie dazu nur noch auf die richtige Botschaft für das Heer der Beeinflussbaren und Wankelmütigen einschwören . . .
Hohmann betrachtete das Mosaik an der Wand hinter der Sitzgruppe. Es stammte aus den 1950er-Jahren, als die Schlote noch rauchten und ihre Eltern sich den ersten Fernsehapparat leisten konnten. Die Schlote waren lange fort. Die Eltern waren lange tot. Sie schüttelte ihre negative Gedanken von sich und dachte über das Gespräch mit ihrem Berater nach.
„Die Welt da draußen wird als chaotisch und gefährlich wahrgenommen“, hatte Birger Obermeier unbeirrt die Ergebnisse der neusten Wähleranalysen und Motivforschung erläutert.
Sie begann, ungeduldig mit den Fingernägeln ihrer linken Hand auf der Holzmaserung der antiken Schreibtischplatte zu trommeln. „Wir leben in Deutschland, Birger.“
„Wir leben nach Meinung der Wähler auf einer Insel relativer Glückseligkeit, Frau Oberbürgermeisterin, während überall um uns herum Krisen und Terror regieren. Nur ist die Insel in großer Gefahr.“
„Sie sind also wirklich der Ansicht, was Mutti für die Nation bedeutet, könnte ich für diese Stadt bedeuten?“
„Genau das ist mein Ziel.“
„Bislang hat Posner die Lorbeeren für die empfundene relative Glückseligkeit meiner Wähler eingefahren.“
„Und das werden wir ändern.“ Er fuhr fort: „Die Bürger verspüren eine große Sehnsucht nach einer permanenten Gegenwart als quasi Verlängerung ihres subjektiven Wohlfühl-Ist-Zustandes.“
„Subjektiver Wohlfühl-Ist-Zustand? Denken Sie sich diese Worthülsen aus, Birger, oder steht der Blödsinn tatsächlich da?“
Obermeier ignorierte den Seitenhieb. „Zusammengefasst: Die Mehrheit der bürgerlichen Wähler glaubt, dass es ihnen gut geht und sich daran selbstverständlich nichts ändern darf.“
„Die Mehrheit der bürgerlichen Wähler schließt allerdings die 45% Nichtwähler im letzten Wahlgang aus“, sagte Hohmann.
„Natürlich. Das da draußen soll gefälligst da draußen bleiben“, sagte Obermeier nachdrücklich.
„Was immer Schlechtes das Da draußen auch ist, nicht wahr?“
„Die Studie bezieht sich explizit auf Wähler und nicht auf Wahlberechtigte, die längst aufgegeben haben.“
„Soweit so gut. Wie kommen da Ihre fünf Kategorien ins Spiel?“
„Cluster, Frau Oberbürgermeisterin, die fünf Cluster.“
„Meinetwegen.“
„Die Spießer, die Streber, die Meckerer, die Angeber –„
„Jaja.“ Hohmeier machte ihre ungeduldige Handbewegung.
„Und die Genießer“, schloss der Berater.
„Verraten Sie’s nun endlich?“
„Also, auf die Spießer trifft meine vorherige Beschreibung voll und ganz zu. Die Streber dagegen verstehen sich als Gutmenschen und wollen, dass alles Besser wird, wie in diesem Song ,Bin mal eben die Welt retten‘. Die Meckerer –“
„Schon klar“, unterbrach Hohmann. „Die Meckerer finden alles scheiße und sind zudem überwiegend passiv. Die Angeber hingegen müssen immer zeigen, was sie haben –“
„Sie sind aber ebenso unzufrieden“, sagte Obermeier dazwischen, den es irritierte, wenn man seine Argumentations-entwicklung störte. „Geld und Statussymbole dienen den Angebern als Überkompensation für ihren Frust.“
„Die Gruppe wählt mich genauso wenig wie diese Meckerer.“
„Oder die wählen, was ihre Eltern wählen. Hehe.“
„Oh Gott, was ist schlimmer? Und zu welcher Gruppe gehören die Eltern nun wieder? Nein, schon gut, kommen wir lieber zu den Hedonisten.“
„Tja, die Genießer sind überwiegend Frauen, ältere Menschen und kinderlose Paare mit hohen realverfügbaren Einkommen. Leute, die sich gerne und oft etwas gönnen.“
Genuss als Belohnung oder als Trost? Hohmann überlegte einen Augenblick, ob sie selbst in die letzte Kategorie fiel, oder eher ein Streber war? Spießer schloss sie für sich kategorisch aus. Sie hatte einmal an einer Gruppensexparty teilgenommen. Das würden Spießer niemals tun. Sie fixierte Obermeier. Hatte der etwa auch schon mal? Knackig genug wäre er … Sie schob auch diesen Gedanken beiseite und sagte: „Gut, die Meckerer können wir also vergessen, die Angeber auch, bleiben als unsere Wähler übrig: die Spießer, Streber und Genießer.“
„Und diese drei Cluster haben eines gemeinsam.“ Obermeier schaute seine Klientin mit seinem wissenden Lächeln an.
„Alle drei haben potenziell viel zu verlieren.“
„So ist es. Sie alle haben Angst. Sie wissen es häufig nur noch nicht.“
„Wie sagen Sie so schön, Birger, Politik ist das Spiel mit den verborgenen Ängsten.“ Hohmann hatte die Angewohnheit, sich wörtliche Zitate ihrer Gegenüber zu merken, um sie bei passender Gelegenheit wieder in ihre Gespräche einzuflechten. Damit signalisierte sie Aufmerksamkeit und schaffte Vertrauen.
„Mit Sicherheit“, sagte Obermeier.
„Hm, der größte Unruheherd in meiner Stadt ist Zepter. Dieses Viertel macht bestimmt vielen Spießern, Strebern und Genießern Angst.“
„Mit Sicherheit“, wiederholte Obermeier.
„Schön. Da sind wir einer Meinung. Und jetzt?“
„Ich war so frei, ein bisschen Feldforschung bei den Polizeiwachen zu betreiben. Einer durchaus repräsentativen Mehrheit der Beamten nach ist Zepter nicht nur der größte Unruheherd, sondern ein regelrechtes Pulverfass.“
„Als Nächstes erzählen Sie mir noch, dass es nur eines Funkens bedarf, damit der Laden explodiert.“
„Mit Sicherheit.“
Hohmann wurde ungehalten: „Was soll das andauernde mit Sicherheit?“
„Das, Frau Oberbürgermeisterin, ist Ihr neuer Slogan für die Stichwahl: Hohmann – Mit Sicherheit. Wie finden Sie ihn?“
„Hm, ja okay. Nur beantwortet das nicht meine Frage nach dem Funken.“
Obermeier setzte sein dem Ergebnis einer anderen Fokusgruppenbefragung nach Überlegenheit suggerierendes Beratergesicht auf und sagte: „In der Ruhe liegt die Kraft.“
„Von wegen Ruhe, Birger, wir brauchen einen großen Knall. Und zwar sehr bald.“