Der nachfolgende Text wurde teilweise dem Vorwort aus NOT BORED! (Nr. 42, 2008) entnommen, übersetzt, gekürzt sowie in situationistischer Tradition strategisch für die aktuelle Lage ergänzt und angepasst …
Ein Blick in die Systemedien reicht aus, um zu erkennen, dass die Welt, die uns die herrschende Eigentümerklasse und ihre Eliten vorgaukeln wollen, bedrohlich aus den Fugen geraten ist. Besonders wenn sie gute Mienen zum bösen Spiel machen. Ich erspare euch die endlose Litanei der bekannten Details, liebe Leute, aber die zentrale Frage muss adressiert werden:
Warum zerbricht die ganze Herrlichkeit zusehends?
Antwort: Weil sich das seit 1945 bestehende Ordnungsgefüge des herrschenden Systems auflöst.
Hmm …
Was wir mit dem Aufstieg von China und Russland erleben, die fortschreitende Ablösung der Unipolarität der USA durch eine Multipolarität, ist ein Machtkampf kapitalistischer Staaten untereinander um die Vormachtstellung innerhalb des Systems, der uns seitens westlicher Politik und Systemmedien als Polarisierung von Gut und Böse untergejubelt wird.
Dieser Machtkampf kann durch das System nicht vermieden werden. Ganz im Gegenteil, es befördert ihn zwangsläufig. Denn es ist ein Verteilungskampf bei dem es um wirtschaftliche Vorteile, um knappe Ressourcen und politisch-militärische Überlegenheit geht: ums Prinzip und um das Ganze, wie die hysterischen Einpeitscher von den Kanzeln im Jammerwesten zetern.
Nüchtern betrachtet geht es um die Aufteilung der Herrschaft zwischen den Oligarchen über uns Restmilliarden.
Darum müssen wir auch mit der Wurzel allen Übels anfangen, dem Kaptalismus, der die Basis des umkämpften Ordnungsgefüges bildet und der für den obszönen Reichtum verantwortlich ist, dem scheinbar die Mehrheit des Stimmviehs weltweit huldigen (trotz oder wegen der wachsenden, teilweise grotesken Armut):
Es ist naiv, darauf zu hoffen, dass der Kapitalismus seine Fehler „korrigiert“ oder gar die Schäden und Zerstörung behebt, die er verursacht hat. Ebenso darf man sich nicht darauf verlassen, dass er aufgrund seiner eigenen inneren Widersprüche von alleine implodiert und eine Art Tabula rasa hinterlässt, auf der eine neue menschliche Gesellschaft für alle aufgebauen werden könnte.
Das glaubt auch niemand wirklich. Das Ende der Welt ist eher vorstellbar.
Ebenso kann der Kapitalismus weder durch Reformen „repariert“ werden, noch kann eine Revolution ihn „reparieren“, wenn diese Revolution auf einen bestimmten Bereich beschränkt ist, sei er politisch, wirtschaftlich, technologisch, moralisch oder sonstwie definiert.
Nur eine soziale Revolution, die zugleich eine totale Revolution ist, kann die Menschheit vor den Übeln des Kapitalismus, dem Krieg, der Umweltverschmutzung, Armut, Unwissenheit und Intoleranz retten und eine Gesellschaft errichten, in der die Menschheit eine Chance auf friedliche Koexistenz, körperliche und geistige Gesundheit, Selbstverwirklichung und vielleicht sogar Freude haben kann.
Okay, der letzte Schachtelsatz klingt ein bisschen utopisch. Trotzdem …
Sozialrevolutionäre müssen als Voraussetzung für irgendeine noch so geringe Chance auf Erfolg eine klare „Arbeitstheorie“ von der kapitalistischen Gesellschaft haben: Das heißt, sie müssen definieren, was diese Herrschaftsform heute wirklich ist, wie sie trotz ihrer tödlichen Mängel weiterbesteht und wie sie sich sowohl gegen reformistische Aktionen als auch revolutionäre Angriffe bislang nicht nur erfolgreich gewehrt hat, sondern es ihr gelingt, diese wieder und wieder zu ersticken.
Diejenigen, die glauben, eine Theorie halte ungeduldige „Revolutionäre“ nur vom Handeln ab, und die in der „radikalen“ Aktion die einzig notwendige Theorie sehen, denken zu kurz. Sie positionieren sich gegen Negatives wie Militarismus, religiöser Fundamentalismus, Patriarchat, Rassismus und Sexismus u.a. und kämpfen für Positives aber Abstraktes wie Selbstorganisation, freiwillige Zusammenarbeit, gegenseitige Hilfe, Freiheit, Gerechtigkeit, ohne das ursächliche Ganze zu sehen.
Eine richtige Theorie ermöglicht es, strategisch und nicht allein taktisch zu agieren, effektiv zu handeln, statt ineffektiv, präzise statt ungefähr.
Um Clausewitz zu zitieren: „Die erste Aufgabe jeder Theorie ist es, Vorstellungen und Ideen zu klären, die durcheinandergeworfen und verwirrend sind. Nur wenn ein richtiges Verständnis von Namen und Begriffen etabliert ist, können wir hoffen, mit Klarheit voranzukommen und sicher sein, dass Autor und Leser die Dinge vom gleichen Standpunkt aus betrachten.“ (aus Vom Kriege).
Aber man sollte keine Illusionen über die Vollständigkeit einer Theorie hegen. Clausewitz stellte ebenso fest: „Ein Theorie ist immer auch begrenzt, sie entspricht nur den Umständen, wie sie sich in der Geschichte darstellen.“ (aus Vom Kriege).
Eine Theorie muss also immer wieder infrage gestellt, überdacht und weiterentwickelt werden.
Es gibt viele Theorien über die „moderne“ Gesellschaft wie die psychoanalytische (Institutionen werden durch repressive Sublimierung geschaffen) oder die soziologische (Macht wird durch große Gruppen, kleine Eliten oder komplexe Netzwerke ausgeübt).
Jedoch wurde keine dieser Theorien mit dem Ziel entwickelt, die „moderne“ Gesellschaft zu stürzen.
Sie waren vielmehr dazu gedacht, die Existenz dieser Gesellschaft zu rechtfertigen. Folglich werden sie nicht als skandalös oder inakzeptabel wahrgenommen; solche Wahrnehmungen gehören jedoch zu den Merkmalen einer echten revolutionären Theorie.
Es gibt mindestens zwei wichtige Quellen für eine wirklich revolutionäre Theorie: Marxismus und Anarchismus. Beide versuchen zu erklären, wer und/oder was die Macht in der Gesellschaft ausübt und warum und/oder wie sie diese ausübt. Einfach ausgedrückt: Für die Marxisten hat die Bourgeoisie Macht, weil sie die Produktionsmittel besitzt und kontrolliert; für die Anarchisten hält der Staat die Macht aufgrund seines Monopols über die Zwangsgewalt durch Polizei und Militär.
Beide Theorien sind revolutionär, weil sie das Ende dieser Gesellschaftsform und ihre Ersetzung durch eine andere, wirklich humane Gesellschaft anstreben: Der Marxismus sieht eine proletarische Revolution, die alle Klassenmacht abschafft; der Anarchismus sieht eine politische Revolution, in deren Folge freiwillige Kooperation die Zwangsgewalt ersetzt.
Aber sowohl Marxismus als auch Anarchismus sind im Laufe des letzten Jahrhunderts stark degeneriert. Das kurze Aufflammen des Interesses an Karl Marx nach dem Börsencrash 2008 erlosch schnell wieder, trotz der folgenden Austeritätspolitik der USA und des Westens, welche die Banken retteten, die Kosten aber auf die Allgemeinheit abwälzten und deren negative Folgen zu unserer heutigen Wirtschaftskrise geführt haben. Die Chancen der damaligen Krise für einen radikalen Politikwechsel wurden nicht genutzt. Von wem auch?
Die herrschende Eigentümerklasse und ihre Eliten hingegen haben es clever verstanden, die wirtschaftlichen Probleme und Folgen ihrer schamlosen Bereicherung, die einen immer größeren Graben zwischen Habende und Habennichtse ziehen, auf „kulturelle“ Felder umzulenken. Man diskutiert über im Einzelfall wichtige, im großen Ganzen aber nachrangige Minderheitenthemen wie Wahl der sexuellen Identität, Gendern und Woke, jedoch nicht über das grundsätzliche Übel: unsere kapitalistische Gesellschafts- und Staatsordnung, die Eigentümerrechte über Menschenrechte, Ausbeutung der Natur und der Biosphäre über Umwelt- und Lebensschutz, Imperialismus und Krieg über Menschenleben, Ausgleich und friedliches Miteinander stellt – und unausweichlich immer repressiver und totalitärer wird.
(Jüngste Beispiele für staatliche Allmacht: die Zwangsmaßnahmen zu Corona und zu den Protesten gegen den Völkermord der israelischen Regierung in Gaza sowie das neue „Wahrheitsministerium“.)
Dem Dauerbombardement von Propaganda, Gegenpropaganda und medialem Overkill ausgesetzt (verbunden mit offener und versteckter Zensur) fehlt es zur Orientierung an einer klaren Perspektive. Die Ohnmacht der Wutwichtel macht diese zu einer leichten Beute für die bourgeoisen Welterklärer, die mit alternativen Patentlösungen nur so um sich werfen. Alle ihre Lösungen verbindet eines, sie sind Formen bürgerlicher Herrschaft und damit des ursächlichen Kapitialismus. Die vermeintlichen Heilsbringer versprechen, dass ihre Variante des Übels schmerzlich vermissten Segen, Sorgenfreiheit und Sicherheit zurückbringen wird. Nach dem Muster: Wenn nur … (hier eine beliebig austauschbare Behauptung einsetzen) geschieht, dann wird alles wieder gut. Hosianna!
Herzliches Beileid, wer darauf reinfällt.
Wir brauchen dringend eine allumfassenden Theorie, mit der wir unsere Gesellschafts- und Staatsordnung wirklich sezieren und analysieren können. Eine Theorie, die für das, was vor unser aller Augen geschieht sowie für persönliche Beobachtungen und Erfahrungen eine intellektuelle Übersetzung und Erklärungen findet. Eine Theorie, die zu kritischem Denken einlädt, ja dieses einfordert, und somit eine Basis für zukünftiges, richtiges Handeln für die notwendige soziale Revolution schafft.
N.B. Eine soziale Revolution ist zwangsläufig immer international. Das belegen die historischen Beispiele. Ein Rückzug in Nationalismus und Patriotismus ist zutiefst reaktionär und bourgeois.
Die Theorie von Guy Debord und der Situationistischen Internationale, die Theorie der GESELLSCHAFT DES SPEKTAKELS, ist solch eine allumfassende Theorie. Sie versucht, die besten Aspekte des Marxismus und des Anarchismus zu verbinden oder zumindest miteinander zu versöhnen. Sie ist vielleicht die relevanteste und nützlichste revolutionäre Theorie, die uns heute zur Verfügung steht.
Was bedeutet das nun konkret, liebe Leute?
Zunächst einmal im ersten Schritt die Standardwerke von Guy Debord zu lesen: Die Gesellschaft des Spektakels und Kommentar zur Gesellschaft des Spektakels. Wer’s schon hinter sich hat, sollte noch einmal in die Texte hineinschauen. Wiederholtes Lesen lohnt sich. Ferner im zweiten Schritt darüber aktiv im Kreise anderer kritischer Geister unvoreingenommen zu diskutieren.
Warnhinweis: Die Situationisten dachten und denken radikal!
Die dritten, vierten und fünften Schritte ergeben sich von selbst. Ihr alle könnt schließlich eigenständig denken und entscheiden, was zu tun ist … kleiner Tipp: Menschen aufklären, einbeziehen und mobilisieren.
Als Einstiegshilfe zum Anschmecken, ein LINK in englischer Sprache:
PLASTIC PILLS bringt die Gesellschaft des Spektakels für heute auf den Punkt …