DER SCHEINHEILIGE BUSSRICHTER

Nach wochenlanger politischer Abstinenz hat Max Säger soeben den letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Roman von Albert Camus gelesen: DER FALL. Warum? Kaum jemandem wird entgagen sein, dass sich seit diesem Sommer die Spirale des Irrsinns immer schneller dreht. Wer trotzdem noch glaubt, es gäbe ein Entrinnen, dem kann die Erfahrung bescheinigen: ihr irrt euch. Angesichts des Propaganda-Dauerbombardements in den Medien (sachliche Nachrichten und unparteiische Analysen sind passé) erübrigt sich jeder schnelle Kommentar, und sei er noch so scharf geschossen. Denken und Nachdenken über die Wirrungen und Irrungen unserer Zeit erfordern eine deutliche Entschleunigung. Während der Black-Rock-Kanzler zum 35. Jahrestag unserer deutschen Wiederanmaßung vor aller Augen der in Zeitlupe implodierenden Republik schamlos das „Weiterso“ verordnet, widmet sich Säger grundsätzlichen Gedanken. Hier sein erster Streich. Wenn dieser dennoch wie eine bitterböse Abkanzlung daherkommen, dann liegt es daran, dass die Realität nichts mit den offiziell perpetuierten Narrativen dieses Landes zu tun hat. Das ändert auch kein systemmediales Dauergetöse

Wohlan, Säger:

Es gibt eine besondere Form der Unredlichkeit, die das gewöhnliche Böse übertrifft. Es ist die Unredlichkeit jener, die ihre Verbrechen nur gestehen, um sich das Recht zu erwerben, andere zu richten; die sich mit Büßertum moralische Autorität erkaufen und endlos von ihrer Läuterung faseln, während ihre Handlungen das genaue Gegenteil verraten.

Nennen wir diese Heuchelei die „Strategie des Bußrichters“. Und wenn es ein Land unter den Nationen der Welt gibt, das sie perfektioniert hat, dann ist es die Bundesrepublik Deutschland.

Ich meine hier nicht jene gewöhnliche Heuchelei, die ein Laster aller Regierungen und der meisten Menschen ist. Jede Nation verfolgt ihre Interessen, jeder Machtapparat begeht Gewalttaten und Verbrechen, wofür „Notwendigkeit“ oder „Gerechtigkeit“ als Schutzmäntelchen bemüht werden. Das ist die gewöhnliche Korruption der politischen Machthaber, niemand erwartet etwas anderes.

Deutschland begeht etwas Niederträchtiges und Verachtungswürdigeres. Es schlägt aus seinem größten Verbrechen politisches Kapital. Beginnend in 1949 und zunehmend seit den späten 1950er Jahren, als die Alt-Nazis diese Republik (West) und ihre Gesetze und Institutionen maßgeblich gestalteten, verkehrt es die Erinnerung an den Holocaust in eine institutionalisierte Rechtfertigung für die Rechtfertigung und Unterstützung von Verbrechen gegen die Menschheit.

Betrachten wir die Logik dieser Position. Deutschland beging eines der schlimmsten Verbrechen der jüngeren Menschheitsgeschichte – den systematischen Mord an sechs Millionen Juden, zusammen mit Millionen anderer, die des Lebens unwürdig befunden wurden. Nach dem Krieg – der angeblichen Stunde null – begannen die Verantwortlichen mit dem, was wie eine echte gesellschaftliche Aufarbeitung daherkam: Die Bundesrepulik (West) zahlte Wiedergutmachung. Sie klärte ihre Kinder über das Grauen auf. Sie baute Museen und Mahnmale. Sie kriminalisierte die Holocaustleugnung. Später folgten dann die Auschwitzprozesse als demonstrative Rechtsprechung gegen die Täter und ihre Taten. Die politische Klasse beteuert reuig, die richtigen Lehren aus der Geschichte gezogen zu haben.

Bewaffnet mit dieser behaupteten Läuterung „richtet“ Deutschland nun andere Nationen. Es doziert über internationales Völkerrecht, falsch, über die willkürliche sogenannte Rules-Based-Order der amerikanischen Freunde. Es belehrt andere Staaten, vorzugsweise die erklärten wirtschaftlichen und politischen Rivalen aus dem Osten, über deren Mangel an Freiheit, Demokratie und Menschenrechten. Es hat sich zum moralischen Gewissen Europas aufgeschwungen. Keck nach dem Motto: Am deutschen Wesen soll gefälligst die Welt genesen.

Aber was hat Deutschland tatsächlich gelernt?

Wenn „Nie wieder“ bedeutet, nie wieder werden wir Völkermord dulden, nie wieder werden wir eine Politik der Rassenüberlegenheit unterstützen, nie wieder werden wir schweigen, wenn Menschen und Völker systematisch verfolgt und vernichtet werden – dann hat Deutschland gar nichts gelernt.

Halt! Es hat gelernt, zu unterscheiden, welche Opfer es als solche anerkennt und welche nicht.

Es unterstützt Israels Recht auf Selbstverteidigung, während Palästinenser zu Tausenden in Gaza ermordet werden. Es verkauft Waffen an Saudi-Arabien, während jemenitische Kinder verhungern. Es beteiligt sich an NATO-Bombardierungen, die Zivilisten töten, um angeblich Frieden und Freiheit zu sichern. Es verurteilt die russische Aggression gegen die Ukraine und redet inzwischen öffentlich vom „europäischen Krieg gegen Russland“, ohne den geringsten Versuch zu unternehmen, die Gegenseite und deren Beweggründe wirklich ernst zu nehmen, geschweige denn die eigene Verantwortung am Krieg einzugestehen und schon gar nicht, sich aktiv für eine tragfähige Friedenslösung zu engagieren.

Wer „Handelswege freihalten“ als Legitmation für widerrechtliche Kriegseinsätze proklamiert und zu Angriffskriegen und Unterdrückung durch (pro-)westliche Staaten schweigt oder diese propagandistisch, finanziell und militärisch unterstützt, der macht sich nicht nur der Heuchelei „schuldig“, sondern begeht veritable (Kriegs-)verbrechen.

Die reuige Täternation Deutschland demonstriert aller Welt, dass ihre angeblich hehren Prinzipien hohl und reine Propagandainstrumente sind, dass das ach so kostbare gesellschaftliche Erinnern und Mahnen dem Zweck der System- und Machtsicherung dient und strategische Schuldeingeständnisse zur Verschleierung der Wahrheit unternommen werden.

Ein Dieb, der stiehlt, ist ein Verbrecher. Aber ein politischer Moralapostel, der stiehlt, während er Nächstenliebe predigt, ist ein größerer Verbrecher, weil er das Vertrauen in die Institutionen zerstört.

Deutschland ist dieser „scheinheilige Moralapostel“.

Seine Repräsentanten benutzt das Leiden der Holocaustopfer als Schutzschild für ihre Außen- und Bündnispolitik und nunmehr auch für ihre drakonischen Maßnahmen nach innen. Sie reklamieren für sich Moral und Menschenrechte, aber fördern durch ihr Handeln ethnische Säuberungen, Kollektivstrafe und das Stigmatisieren bestimmter Völker und Bevölkerungsgruppen als de facto „Untermenschen“.

Entweder gilt das unentwegt postulierte „Nie wieder“, die Legitimation für die Rückkehr Deutschlands in die globale Staatengemeinschaft, für jeden Menschen – egal ob Jude oder Palästinenser, Russe oder Ukrainer, Jemenit oder Afghane etc. – oder es hat überhaupt keine Bedeutung. Dann ist es kein allgemeingültiges Prinzip, sondern eine opportunistische Parteiergreifung.

Und exakt dies ist das Manöver von Camus‘ Bußrichter in DER FALL. Jean-Baptiste Clamence gesteht seine „Verbrechen“ nicht, um sich zu läutern, sondern um das Recht zu erwerben, andere zu richten. Er spricht nicht von universeller Schuld, um universelle Verantwortung zu begründen, sondern um seine eigene spezifische Schuld in der allgemeinen Conditio Humana aufzuheben.

Der Bußrichter täuscht Demut vor und praktiziert Hochmut.

Die Bundesrepublik Deutschland hat dieses perfide Verhalten weithin erkennbar zur „Staatsräson“ erhoben. Sie bekennt sich zu ihrer Vergangenheit, um sich von deren Konsequenzen freizusprechen.

Die Politik hat schnell gelernt, die Sprache der Menschenrechte im Munde zu führen, während sie die brutale Logik von Macht und Gewalt praktiziert und – und das ist ein Beleg für die Arroganz der Repräsentanten – zunehmend schamlos propagiert.

Beispiel gefällig? Der Ausspruch des Black-Rock-Kanzlers, souffliert von einer ZDF-Redakteurin: „Israel leistet für uns die Drecksarbeit“. (Gemeint waren die als „humanitäre Atombombenverhindungsattacken“ getarnten Bombenangriffe auf den Iran – völkerechtlich das Anzetteln eines illegalen Angriffskrieges – und die „Enthauptungsschläge“ – gezielte Tötungen – der Israelis gegen die iranischen Führung, um einen Regimewechsel herbeizuführen.)

Was bedeutet eine moralische Aufarbeitung der Vergangenheit, wenn nicht ein Bekenntnis zu universellen Prinzipien der Menschlichkeit und der Menschenrechte? – Inszeniertes Büßertum.

Wenn Deutschland wirklich gelernt hätte, dass Rassenüberlegenheit falsch ist, dann könnte es nicht die Strukturen der Rassenüberlegenheit anderswo unterstützen. Wenn es wirklich gelernt hätte, dass „Nie wieder“ sich auf alle Menschen bezieht, die aufgrund ihrer Ethnie verfolgt, vertrieben und ermordet werden, dann könnte es keine Politik der Verfolgung, Vertreibung und des Mordens hinnehmen. Schon gar nicht diese noch verteidigen, wenn die Beweise zweifelsfrei und nicht länger zu leugnen sind.

Aber Deutschland hat seine Lektionen aus der Geschichte nie wirklich gelernt.

Es hat dafür etwas ganz anderes gelernt: wie man Schuld monetarisiert, wie man Erinnerung in staatliches Kapital umwandelt, wie man die Sprache der Sühne benutzt, um sich das Recht auf „Business as usual“ zu erkaufen. Es hat die Strategie des Bußrichters zur nationalen Politik erhoben.

Das ist der Grund, warum Deutschlands „Staatsräson“ nicht nur heuchlerisch, sondern niederträchtig und verachtungswürdig ist.

Wir müssen auf den allgemeingültigen Prinzipien der Menschenrechte bestehen. Wir müssen Nationen – besonders jene, die moralische Autorität für sich beanspruchen – an den Standards messen, die sie selbst propagieren. Die Inszenierung von Sühne ist keine Sühne. Die Behauptung moralischer Autorität ist keine moralische Autorität. Egal wie sehr die Politik diese für sich (und damit für uns alle) reklamiert.

Das Ziel der deutschen Politik ist es, ein ebenbürtiger (Mit-)täter im Spiel der Großmächte zu sein.

Denn das ist die wahre Lehre der deutschen Politik aus der Wiedervereinigung vor 35 Jahren: „Wir sind wieder wer und wollen unsere wirtschaftliche Macht nutzen, um durch sie globale politische und bald auch globale militärische Macht (Europas stärkstes konventionales Militär) zu erlangen.“

Wer diesen Irrsinn hinnimmt, lässt sich von der deutschen Politik erneut zur Schlachtbank führen.

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