Die Fortsetzung von HEIMBRINGER – gone girl: Nach dem Besuch bei Michaelas Mutter, geht’s dank der rosafarbigen Visitenkarte zu . . .
LAVA Entertainment. Der Neonschriftzug leuchtet rot und grell in den trüben Nachmittag hinaus, er befindet sich auf dem Flachdach eines heruntergekommenen Industriegebäudes in einem heruntergekommenen Industriegebiet, das sich heute Technologie-Park nennt.
Eine Mitvierzigerin in einem schlabbrigen Sweatshirt mit verwaschenen Firmenlogo schickt mich kommentarlos eine enge Treppe hinauf, an deren Ende ich eine Nussholzfurniertür öffne, die in ein überraschend geräumiges Büro führt, in dessen Mitte ein großer Schreibtisch steht. Unwillkürlich halte ich nach dem Schild „Echt Antik” Ausschau. Auf einem Sideboard sind Pornofilmtrophäen aufgereiht, Venus, Hot d’Or. Branchenauszeichnungen für hervorstechende Leistungen, wie „Bester Dreifachanal in einem Ethno-Gangbang”. Sicher ein Beitrag zur Völkerverständigung.
Der Pornofilmproduzent hinter dem Schreibtisch wirkt wie ein in die Jahre gekommener Buchhalter: ein gestreiftes Hemd spannt über seinem Schmerbauch, eine Lesebrille baumelt an einem Halsbändchen vor der Brust, unter seiner großporigen Nase wuchert ein buschiger Schnäuzer. Er räkelt sich chefmäßig in seinem Chefsessel. Auf der Schreibunterlage vor ihm steht ein Messingschild mit der Gravur: FRANK LAVA, President.
In Wahrheit heißt der Kerl Wilfried Bockel. Er hat sich in allem versucht, was einträglich erschien, Versicherungen, Diskotheken, Videofilmverleih. Alles ohne Erfolg. Dann begann er „geile Schlampen von nebenan, total versaut“ zu filmen und später lateral in die Marktlücke Spermaorgien zu diversifizieren. Hier löhnen Horden männlicher Teilnehmer einen Obulus, um kollektiv auf die selben geilen Schlampen von nebenan abzuspritzen, je schneller und häufiger die Soße kommt, desto besser. Neuerdings produziert Lava auch Virtual-Reality-Pornos für die individualisierten Wichsphantasien der Gemeinschaft vereinsamter Notgeiler. Der Pornograph, „ich drehe, was ankommt“, gibt regelmäßig Interviews in den Boulevardmedien und war sogar mal in einer seriösen Talkshow. Halt ein echter deutscher Selfmademan.
Ich stelle mich vor und zeige ihm Michelles Foto.
An einer Wand hängt ein großes Poster mit seiner Neuentdeckung Lady Lolita in aufreizender Pose. Grell geschminkt, hätte ich sie beinahe nicht erkannt. Lavas Blick wandert von dem Poster auf das Foto der 15-jährigen Michelle in seiner Hand und zurück, als müsse er sich selbst von der Ähnlichkeit überzeugen.
Er schaut mich über die Lesebrille hinweg an. „Sind Sie ein Fan?“
„Ein Freund.“
Mit skeptischem Blick beugt Lava sich vor. Ich strecke meine Hand aus, er reicht mir das Foto über den Schreibtisch hinweg.
Ich lasse mich unaufgefordert in Besuchersessel fallen und habe gleich das Gefühl zu versinken. Das Biest ist viel niedriger als der Chefsessel. Es erlaubt eine ungehinderte Sicht auf die Haare in Lavas Nase. Ich sehe lieber nicht hin und sage: „Ich bin ein guter Freund der Familie.“
„Familie, Freunde, Fans. Wissen Sie, ich bin Kummer gewohnt. Wir haben eine Buchhaltung, beachten Vorschriften, Hygiene, Standards, wir zahlen Steuern. Hier läuft alles ordnungsgemäß. Ein ganz normales Geschäft. Jeder muss sein Geld verdienen. Sie sicher auch. Die Zeiten sind hart.“
Ich nicke freundlich und schweige. Lava lehnt sich nach hinten, dreht leicht seinen Chefsessel und betrachtet Lady Lolita an der Wand. „Wir schützen unsere Mädchen. Aus Prinzip, guter Freund.“
„Sagt das der Humanist oder der Investor?“
„Moral und Vernunft schließen einander nicht aus.“
„Das ist eine Charakterfrage.“
„Was nicht?“
Ich zwinge mich zu dem Poster zu schauen. Eine Kunstfigur starrt mich an, devot und dominant, aufreizend und scheu zugleich. Zwischen dem Foto in meiner Hand und dem Poster liegen nicht einmal zehn Monate.
„Ja ja, Kinder werden schnell groß. Gestern noch waren sie so klein, ruckzuck sind sie erwachsen. Sie sollten meine beiden mal sehen.“ Lava faltet die Hände über dem Bauch. Ich lächele auffordernd. „Die sind in den elterlichen Betrieb eingestiegen. Natürlich hinter der Kamera, darauf hat meine Frau bestanden. Startvorteile sind wichtig heutzutage. Diesen Konkurrenzkampf gab es zu meiner Zeit nicht. Aber die jungen Leute bringen viele neuen Ideen ein. Junge Leute“, er schüttelt nachdenklich den Kopf, „als wenn wir schon alt wären.“
Ich sage: „Junge Körper, sind begehrt, was? So lange sie unverbraucht sind.“
„Lady Lolita hat Köpfchen, sie weiß genau, was sie will. Ich habe schon viele Girls kommen und gehen sehen. Die meisten sind Eintagsfliegen, nicht Lady, die hat Geschäftssinn. Sie hat schnell kapiert, Erotik ist ein globales Milliardenbusiness. Und wir haben das Potential noch nicht annähernd ausgeschöpft.“ Bei soviel guten Aussichten lächelt Lava zufrieden.
„Sie trotzen also den harten Zeiten.“
„Nur wenige Branchen sind so robust wie die unsrige.“
„Ich würde gerne mit Michelle sprechen.“
„Aber natürlich.“
„Und?“ Ich halte seinen Blick.
„Am besten Sie schreiben ihr eine E-Mail. Lady Lolita ist sehr interaktiv mit ihren Fans aktiv. Sie wird Ihnen bestimmt antworten, wenn sie es denn möchte.“
„Aber Sie könnten natürlich einen direkten Kontakt herstellen?“
„Aber nein, natürlich könnte ich das nicht. Unmöglich. Sie verstehen.“ Lava lächelt, die Finger gespreizt, die Fingerkuppen ruhen aufeinander.
„Aus Prinzip nicht?“
„Danke für Ihr Verständnis.“ Ich sehe Lava intensiv an. Der Mann, der Kummer gewohnt ist, hält meinen Blick ohne mit der Wimper zu zucken. Gleich kriegt er auf die Fresse. Ich schnelle aus dem tiefen Sessel hoch. Lava fährt unwillkürlich zusammen.
„Ich glaube, ich fühle mich jetzt viel besser. So prinzipientreu, wie Sie Ihre Investition schützen.“
„Ich schütze die Girls“, betont Lava, der Girls-Beschützer, „möchten Sie eine Autogrammkarte? Für die Familie?“ Er öffnet eine Schublade, holt eine A5-formatige Hochglanzkarte heraus und legt sie auf die lackierte Tischplatte. Die selbe Pose wie auf dem Poster. Links oben ist ein roter Kussmund-Abdruck, rechts unten steht mit rotem Glitzerstift geschrieben „In Love, Lady Lolita“, das A in Lolita hat die Form eines Herzens.
„Sie hat selbst unterschrieben. Ein Sammlerstück.“ Lava strahlt wie ein Gebrauchtwagenhändler. Gleich kriegt er wirklich auf die Fresse.
Ich nehme stattdessen die Autogrammkarte.