2000 LIGHTYEARS FROM HOME – Leseprobe

AUS DEM ERSTEN KAPITEL . . .

„Rock ’n Roll erwischte England wie die Bombe von Hiroshima“, sagte Keith, der noch 1952 bei der Krönung von Lisbeth im großen Chor in Westminster mitgesungen hatte (wie man unschwer auf RUN, RUDOLPH, RUN hören kann).

Die Insel brachte ihre eigenen Elvis-Clone heraus, die über Qualitäten verfügten: Cliff Richard, Marty Wilde, Billy Fury oder die unglaublichen Johnny Kidd & the Pirates. Die Pirates waren vielleicht die besten! Ihre Knaller kann man heute noch gut hören, und sie konnten gefährlich sein (SHAKIN‘ ALL OVER, SO WHAT, RESTLESS), als auch extrem anspruchsvoll (HURRY ON BACK TO LOVE). Dass ihre Karriere kurz und frustrierend war, ist nicht verständlich. Sicher wieder so ein Management-Scheiß. Wieso gab es die erste Langspielplatte erst 1970? Da waren die Piraten längst gekentert und trieben auf Planken hängend durch den Kanal.

Dann kamen die Beatles, und Europas Teenager begannen durchzudrehen: 1963. 1964 kehrte der Rock in die USA zurück mit der großen British Invasion: Alle englischen Bands wurden von Bomber Harris in ein Flugzeug in die Staaten gesetzt und zerbombten die US-Hitparaden. Mit Gitarren wie Kalaschnikows schossen die Brit-Bands den Frankies & Rickys die Eier weg. Die Kulturrevolution trat in die entscheidende Phase.

Es muss so ’64 gewesen sein, als mir erstmals die Basslinien von Bill Wyman die Magengedärme aufwühlten und Techni-color in mein Leben brachten. Es war Sommer, und während ich auf repressiven Druck meiner Eltern zum Schlafengehen verurteilt wurde und mich fürs Bettchen fertig machte, trug eine leichte Brise exotische Klänge über die Mauer des Gemeindehauses direkt in mein Kinderzimmer. Dort war nämlich samstags regelmäßiges Abhotten bis 22.00 Uhr erlaubt − für die Methusalems über 14 Jahre. Ich war zehn und hatte bisher Freddy (FÄHRT EIN WEISSES SCHIFF NACH HONGKONG; B-Seite: DAS IST LANG VORBEI!!!), deutsche Schlagerheinis und andere Könige der flotten Musik hochgeschätzt. Auch das, was man später Highschool nannte, gefiel mir: Manchmal klang es wie das nächtliche Gejaule geiler Coyoten, die sich bis an den Rand der Vorstädte herangewagt hatten. War ganz schön.

Was aber nun wie Kreissägen die stille Unschuld meines Zimmers zersägte, faszinierte mich ungeheuer viel mehr; der Krach ging mir nicht mehr aus dem präpubertären Schädel. Das war etwas anderes als die Beatles, deren melodische Töne mir in den Ferien am Comer See ununterbrochen ums Hirn gespült worden waren. Hier gab es eine Welt jenseits der humorlosen Konventionen der bürgerlichen Welt. Dieser Sound ließ das Spießertum hinter sich, brachte ungeheure Zuversicht in dich und Zukunft vor sich.

Wenige Tage später sollte ich erfahren, was mich so angemacht hatte: Wir waren auf einem dieser unerträglichen Verwandtschaftssonntagsbesuche bei einem Onkel, und mein älterer Cousin besaß dank seiner noch älteren Schwester einige dieser neuen Lärmplatten mit langhaarigen Affen auf der Hülle, die bei Erwachsenen nicht allzu gut anzukommen schienen. Die sagten einem auch klipp und klar, was das war: Es war Negermusik aus dem Dschungel, gespielt von ungewaschenen Langhaarigen, die nur Vergewaltigung, Totschlag, die Abschaffung der Zivilisation und die Vorbereitung der kommunistischen Weltherrschaft im Sinn hatten. Diese Kerle waren gegen geregelte Arbeit, ordentliches Familienleben, Zebrastreifen, den Goldenen Schuss (Lou van Burg − nicht das Frankfurter Bahnhofsklo), den Blauen Bock, Turmfrisuren, VW-Käfer, Wirtschaftswunder und saubere Gesinnung, erklärten die Alten rot angelaufen mit Geifer vor dem Maul. Die wollten alles kaputt machen. Sie waren das Schlimmste, was es gab. Genauso schlimm wie Fidel Castro und Mao und schlimmer als Hitler oder der 2.Weltkrieg, den man leider verloren hatte. Im Grunde verkörperten sie das, wogegen die Alten heroisch gekämpft hatten: die Dominanz des Untermenschentums. Nur Untermenschen konnten derartigen Krach machen. Verjudete Negermusik.

Später bewiesen unsere Wirtschaftswunderkapitäne und deren toupierte Frauen bemerkenswertes Differenzierungs-vermögen, indem sie die Beatles zähneknirschend akzeptierten oder gar zu YESTERDAY den fetten Wanst bewegten − Haare zwar lang, aber gewaschen und anständig in Uniformen angezogen, na ja, halt englische Künstler. Sogar die HÖR ZU hatte positives über das erste Beatles-Album zu berichten: „Die zentrale Tanzschaffe.“

All der Hass auf die Welt und ihren Nachwuchs ergoss sich nun über die Rolling Stones, die noch schmutziger als ein Strip-Club waren. EVENING STANDARD vom 21.3.64:

„Sie haben in der Musikszene Schreckliches angerichtet; sie haben sie an die acht Jahre zurückgeworfen. Als wir unsere Popsänger gerade soweit hatten, dass sie alle sauber, ordentlich und nett aussahen, da kamen die Stones daher und sahen aus wie Beatniks. Sie haben das Image der Popsänger der sechziger Jahre ruiniert.“ Und zur ersten Australien-Tournee stellte der SYDNEY MORNING HERALD fest:

„Ein unverhohlen sexueller Akt, auf den die keuschen Beatles unsere zarten Teenager nicht vorbereitet hatten.“

Die fett gewordenen Weltkriegsveteranen und Wirtschafts-wunderspießer wussten genau, wie man mit solchen Burschen verfahren musste: Erst mit dem Schlauch abspritzen und dann erschießen. Liberalere Geister erwogen noch Arbeitsdienst oder ein paar Monate in einem gut geführten KZ.

Sie hatten es aber auch verdammt schwer.

Erst mal kam diese verdammte Anti-Babypille, die Frauen angstfreien Sex garantierte. „Die Pille verautomatisiert die Liebe und versaut die Moral.“ Unterstützt wurde diese Schweinerei noch durch die Mode. „Die Mini-Mode ist so aufreizend, dadurch kommen so viele Sexualverbrechen.“ Gut erzogene Frauen in Nylonkitteln und Haarnetzen waren ebenfalls nicht begeistert und verstanden die Qualen ihrer rotgesichtigen Ehemänner: „Manche haben nur ein paar Fetzen dran, da kann man den ganzen Hintern sehen. Und da sollen die Männer nicht verrückt werden?“

Die Stones waren fast so schlimm wie Pille und Minirock („Denen verdanken wir das doch! Das ging los mit langen Haaren und Affenmusike.“).

„Die Rolling Stones ,beaten‘ am meisten.“ Slogan von Decca für die 65er Tour.

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