LUZIFER CONNECTION – Leseprobe

Das ist Kuching (1993-2011), der das Buch gewidmet ist, denn ohne sie wäre es nicht entstanden.
 

1
Die verweinten Augen des kleinen Jungen sahen Gill skeptisch und hoffnungsvoll zugleich an. Gill hielt die Tür auf und sah zu ihm herunter. Er war genervt und leicht verkatert. Am liebsten hätte er die Tür einfach wieder zugeschlagen, aber er widerstand der Versuchung. Den Kleinen umgab etwas Trauriges – nicht nur, weil er weinte.
„Was kann ich für dich tun?“
„Ich komme von der Polizei. Generalhauptkommissar Igel schickt mich … er sagt … also … Sie müssen mir unbedingt helfen.“
„Generalhauptoberkommissar Igel, aha. Das muss dann wohl sehr wichtig sein. Komm erstmal rein.“
Der Kleine ging an Gill vorbei durch den Gang, blieb unsicher stehen und folgte ihm dann ins Büro. Er setzte sich in den Sessel vor dem Schreibtisch und sah sich interessiert um.
„Ist das ein richtiges Privatdetektivbüro?“
„Ich bin kein richtiger Privatdetektiv. Ich bin Sicherheitsberater. Aber du weißt ja hoffentlich, wer ich bin. Und wer bist du?“ „Ich heiße Michael Heimkamp.“ „Sehr erfreut. Warum warst du bei der Polizei?“ „Weil Henry weg ist.“ Gill sah ihn fragend an. „Henry ist mein Kater. Er ist noch ganz jung. Nicht mal ein
Jahr alt und noch nicht kastriert. Er ist der liebste Kater der Welt und mein bester Freund. Ich habe ihn aus dem Tierheim und nicht von einem Züchter.“
„Sehr gut. Züchter gehören alle erschossen.“
„Oh … was? Züchter sind böse, weil sie noch mehr Tiere machen, die dann ins Tierheim müssen. Und da sind schon so viele. Als ich Henry holen durfte, waren so viele da, die auch mit mir mitwollten. Ich musste weinen, weil ich nicht alle mitnehmen konnte.“
„Das konntest du nicht. Aber du hast dafür gesorgt, dass wenigstens eines ein Zuhause hat.“ Missmutig warf Gill eine weitere Aspirin in sein Wasserglas.
„Er würde nie von alleine weglaufen. Jemand hat ihn entführt.“
„Wie lange vermisst du ihn denn schon?“
„Seit gestern nacht.“
„Und er ist vorher nie so lange weg gewesen?“
„Kein einziges Mal. Er geht nie aus dem Garten. Manchmal legt er sich unter einen Busch. Aber er ist ja noch so klein. Er hat viel zu viel Angst, um wegzulaufen.“
„Irgendwann fangen sie alle zu streunen an.“
„Weiß ich doch. Aber Henry noch nicht. Henry bleibt immer im Garten oder im Haus. Manchmal setzt er sich in die Hecke zur Straße. Aber er geht nie weiter, weil er sich vor den lauten Autos fürchtet.“
Gill zündete sich eine Reval an.
„Rauchen ist ungesund.“
„Was geht dich das an? Bist wohl ein Klugscheißer, was? Ich kann Klugscheißer nicht ausstehen …“
„Tschuldigung. Finden Sie Henry für mich?“
„Immer langsam, Junge.“
Der Kleine zog hundert Euro aus der Tasche und legte sie auf den Schreibtisch. „Das ist alles, was ich habe. In zwei Monaten habe ich Geburtstag. Ich kann mir Geld wünschen und Ihnen dann mehr bezahlen.“
Gill blickte auf den zerknitterten Geldschein. „Dafür kriegt man ja nicht mal vernünftige Skates.“
Michael rutschte verzweifelt auf dem Sessel herum. Er sah Gill aus melancholischen Augen an. Das berührte Gill. Seine eigene Kindheit war auch von Einsamkeit geprägt gewesen. Und er zog die Gesellschaft von Tieren der von Menschen vor. Selbst die eines Krokodils.
„In zwei Monaten … Ich kriege bestimmt fünfhundert Euro …“
Gill musterte den Jungen ernst. „Das ist eine harte Nuss. Ich habe sowas noch nie gemacht.“
„Aber Generalhauptkommissar Igel hat gesagt, Sie sind der berühmteste und beste Katzenfinder von ganz Dortmund.“
„Igel ist ein Arschloch und hat dich belogen.“
Schockiert starrte der Junge ihn an.
„Er hat dich belogen, um dich loszuwerden. Und weil er mich nicht mag, hat er dich zu mir geschickt. Um mir einen Streich zu spielen.“
Neue Tränen sammelten sich in den Augenwinkeln. „Einen Streich hat er Ihnen gespielt … Aber zu wem soll ich denn jetzt gehen? Henry ist bestimmt schon ganz krank vor Angst und wartet, dass ich ihn hole.“
Gill stand auf, legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter.
„Willst du was zu trinken?“
„Ist mir egal.“ Der kleine Körper in den teuren Markenklamotten zuckte. Gill trank das Aspirin auf Ex, ging in die kleine Küche, nahm eine Flasche mit Direktsaft aus dem Bergischen Land aus dem Kühlschrank. Während er zwei Gläser eingoss, sprang eine schwarze Katze mit weißen Pfötchen und weißer Blesse auf die Fensterbank. Sie blieb im geöffneten Fenster sitzen, kratzte sich hinter dem Ohr und sah Gill freundlich an. Ein paar schnurrende Laute.
„Na, Kuching. Da hast du dir ja den richtigen Moment ausgesucht.“
Die Katze schnurrte, als sie ihren Namen hörte, sprang von der Fensterbank und stupste ihr Köpfchen gegen Gills Unterschenkel.
„Du meinst, ich soll mal was Sinnvolles tun, was? Die Welt sicherer machen für mittlere Raubtiere.“
Kuching setzte sich vor ihren Napf und sah ihn erwartungsvoll an. Seufzend öffnete Gill eine Dose Katzenfutter, was ihm ein beifälliges Miauen einbrachte.
„Heute wieder Fisch. Endgültig vorbei mit Rind. Wenn ich schon kein Fleisch mehr esse, musst du dich gefälligst auch mit Fisch begnügen.“
Die Katze schnüffelte an dem Fisch und schien etwas ungehalten. Dann biss sie kräftig zu und tröstete sich mit den Gedanken an ein paar saftige Mäuse, die es inzwischen in der Dortmunder Innenstadt reichlich gab. An Gill hatte sie momentan kein Interesse. Also ging er mit der Flasche und deni Gläsern ins Büro zurück.
„Verdammt viel schwieriger, als einen Menschen zu finden. Aber ich habe eine Idee, die man ausprobieren könnte …“
„Wie lange dauert das?“
„Weiß ich nicht. Hast du ein Foto von Henry?“
Der Kleine zog ein Bild aus der Jacke. Es zeigte einen vor Lebensfreude und Energie nur so strotzenden kleinen, pechraben-schwarzen Kater mit großen Augen. Er saß auf Michaels Kopf.
„Hört er auf seinen Namen?“
„Ja. Das heißt …“
„… wenn er will.“
Der Junge sah Gill begeistert an. Vielleicht war der Superdetektiv ja doch kein Trottel.
„Stimmt. Wenn er nicht will, hört er überhaupt nicht.“
„So sind Katzen. Ich habe da auch so ein paar Erfahrungen. Hunde haben Herrchen, Katzen Personal. Den alten Spruch kennst du bestimmt.“
Auf dieses Stichwort schnürte Kuching herein und betrachtete Gills Besucher interessiert. Sie kam näher und beschnüffelte Michaels Beine.
„Sie riecht Henry.“
„Und vieles andere. Das ist Kuching. Sie wohnt gelegentlich hier, nimmt gnädig von mir Futter entgegen und achtet auf meine geistige Gesundheit.“
„Aha.“
„Musst du nicht verstehen.“
„Tu’ ich aber.“
„Du liebst Katzen.“
„Henry liebe ich mehr als alles andere auf der Welt.“
„Mehr als deine Mutter?“
„Ja.“
„Das ist eine ziemlich merkwürdige Ansicht für ein Kind.“
„Mir doch egal.“
„Liebst du denn deine Mutter nicht?“
„Doch. Aber nicht so sehr wie Henry. Henry ist immer bei mir. Henry braucht mich.“
Wieder der alte Scheiß von einem Kind, das sich vernachlässigt fühlte. Gill hatte keine Lust, weitere Details zu hören. Das würde ihm auch nicht helfen. Er sollte eine Katze finden und sich nicht um die mies laufende Sozialisation eines Kindes kümmern. Ersteres konnte er – vielleicht. Letzteres scherte ihn einen Dreck.
„Gib mir den Hunderter.“
Michael überreichte ihm den zerknüllten Schein.
„Ich übernehme den Fall. Eine Erfolgsgarantie gibt es natürlich nicht. Die Chancen sind eher schlecht. Mach dir nichts vor. Gut möglich, dass Henry längst tot ist.“
Der Kleine begann wieder zu weinen.
„Er lebt. Ich weiß es, ich spüre das.“
Gill dachte daran, wie er eines Nachts aufgewacht war und gewusst hatte, dass mit Kuching etwas nicht stimmte. Er hatte sich angezogen und Hinterhöfe, Keller und Hauseingänge durchsucht. Immer seinem Instinkt folgend. In einem alten Kohlenkeller hatte er die Katze schließlich gefunden, eingeklemmt zwischen Gerümpel, tief im Bauch der Stadt. Sie hätte sich nie selbst befreien können. Die Chancen, dass sie jemand gefunden hätte, waren gering. Das Tier war abgemagert und musste mehrere Tage und Nächte in dieser misslichen Lage verbracht haben. Wenn der Kleine fühlte, dass seine Katze noch lebte, konnte Gill das nachvollziehen. Er stand auf und legte Michael tröstend die Hand auf die Schulter. Sie fühlte sich eiskalt an. Die unbeschwerte Freude war aus dem jungen Körper gewichen und durch die ersten Verzweiflungen des Lebens ersetzt worden. Weitere würden folgen. Aber diese konnte Gill vielleicht beenden.
„Wie kann ich dich erreichen?“
„Ich habe ein Handy.“
Gill ließ sich Adresse und Telefonnummer geben und schickte seinen Klienten nach Hause. Als er in sein Büro zurückkam, hatte Kuching es sich in seinem gepolsterten Schreibtischsessel gemütlich gemacht. Sie starrte ihn intensiv an.
„Hab’ schon verstanden: Wenn ich dich runterjage, ist das schlecht für mein Karma. Ich weiß.“
Begeistert leckte sich die Katze den Hintern, als Gill sich in den Besuchersessel fallen ließ und die spartanische Einrichtung betrachtete. Dies war seine Wohnung und gleichzeitig sein Büro. Bis auf den teuren Laptop, der so befremdlich glänzte wie die Moral in einem Bankerhirn, hätte die Einrichtung aus dem Sperrmüllkatalog stammen können. Was ein Zuhause ist, hatte er nie gelernt. Er war weit gereist und nirgends angekommen.
„Hilf mir mal beim Nachdenken“, sprach er die Katze an, die das für keine ernstgemeinte Aufforderung hielt und sich weiterhin putzte. Er legte J. J. Cales „To Tulsa And Back“ auf und hörte sich „Homeless“ an. Gill überlegte, wo er ansetzen könnte …

Und das ist Richard Bradford, ohne ihn würde die Figur nicht „Glll“ nicht existieren.