INS RÄUDIGE HERZ DER BESTIE – Leseprobe

1

Ich hocke mal wieder ohne Klopapier auf der Keramikschüssel, als sechs englische Zivilbullen den gefesselten weißbärtigen Mann mit den langen, zu einem Zopf gebunden Haaren aus einem Backsteingebäude hinaus die Treppe hinabschleppen. Auf seinem kurzen Weg zu dem direkt am Bordstein parkenden Polizeitransporter hält der von Amis und Europäern gleichermaßen gehasste wie gefürchtete Wahrheitsverkünder die Aufklärungsschrift „Geschichte des Nationalen-Sicherheitsstaates“ in den Händen und ruft den von einem Polizeikordon abgeschirmten Getreuen zu: „Ihr könnt Widerstand leisten. Ihr müsst Widerstand leisten!“

Dank unserer digitalen Gegenwart erwischt mich der Livestream vom gewaltsamen Ende seines siebenjährigen Asyls in der ecuadorianischen Botschaft buchstäblich mit heruntergelassenen Hosen. Die von der Systempresse klammheimlich beklatschte Verhaftung des wichtigsten Journalisten unserer Zeit ist eine knüppelharte Machtdemonstration des imperialen Obermaxes und zugleich eine unverhohlene Drohung an Querulanten wie mich: „Wir vergessen nichts, und wir verzeihen niemals. Wo immer auch du dich verkriechst, wir kriegen dich.“

Spontan denke ich: Glückwunsch, Derner, alter Sack, du bist der Nächste. Zugegeben, das klingt jetzt schwer nach Paranoia oder Größenwahn, aber jeder im Schreibmetier weiß, erst wenn sie aufhören, dich zu ignorieren, machst du einen guten Job. Und wenn ich mir eins nach dreißig Jahren – in denen ich nicht weiser, sondern nur grauer geworden bin – einbilde, dann, dass ich einen guten Job mache.

Als ich ein paar Nächte nach dem Livestream mit einer Großpackung „Dreiblatt extra – für die extrazarte Haut“ meine Bude betrete, richtet eine aufregend schlanke, ganz in schwarz gekleidete Frau mit einer schwarzen Pagenkopffrisur eine schallgedämpfte israelische Jericho 941 auf mich. Mann-o-Mann, klassische, zeitlose Eleganz, geht es mir durch den Sinn und dann: Hey, die einzige Knarre, die sich auf Inferno reimt. Das passt zu dem alten Apartheidsstaat.

„Veit Derner?“, fragt die Frau in Schwarz auf Hochdeutsch mit einem leichten Akzent, den ich nicht gleich zuordnen kann.

„Tut mir leid, ich bin nur ein Bekannter. Derner hat mir seine Schlüssel gegeben und gemeint, ich könnte hier pennen, weil meine Wohnung wegen Vermüllung geräumt wurd–“

„Wenn Sie nicht Veit Derner sind“, unterbricht sie mich, „erschieße ich Sie sofort.“

Ich denke: Dich schleppen keine sechs Zivilbullen lebend die Treppen hinunter, dich schleifen zwei Bestatter in einem Transportsarg aus hochverdichtetem Polystyrol in Holzoptik hier raus. Dann kommt mir diese mysteriös verschlüsselte E-Mail in meinem Postfach in den Sinn, die ich besser gelöscht hätte, anstatt darauf zu reagieren.

„Rein hypothetisch gesprochen, also mal angenommen, ich wäre dieser Derner, der ich natürlich nicht bin, aber wenn ich –“

„Wenn Sie es sind, erschieße ich Sie erst am Ende der Geschichte“, stoppt sie meinen Redeschwall.

Logo habe ich der E-Mail diesen Besuch zu verdanken. „Ich sehe, hier ist Leugnen zwecklos“, sage ich eilig und knipse mein unverschämt charmantes Lächeln an.

2

In bestimmten Kreisen unserer Bücklingsrepublik gelte ich als aufsässiger Renegat, der dringend eine Kugel zwischen die Augen benötigt, damit er für immer die Fresse hält, in anderen als einer der letzten aufrechten investigativen Rebellen, der in unseren Fake News verseuchten Zeiten die Wahrheit ans Licht zerrt. Beide Lager bombardieren mich mit E-Mails, die wahlweise exzessive Drohungen, obskure Andeutungen oder großartige Versprechungen enthalten, manchmal aber auch nur exklusive Kreditangebote und erstaunliche Sexofferten.

Der E-Mail-Sender OdysseUS köderte mich mit der Ankündigung, er hätte mir etwas sehr Wichtiges mitzuteilen, und forderte mich auf, einem komplizierten Sicherheitsprotokoll zu folgen, damit wir gefahrlos in Kontakt treten könnten. Mein eigener Securedrop zur Wahrung der Anonymität meiner Informanten erschien ihm wohl zu unsicher. Ich vermochte nicht einzuschätzen, wer sich hinter dem Pseudonym OdysseUS verbarg und stand wieder einmal vor der ewig gleichen Frage: Enthüllungsknaller oder Untergang?

Die Ver- und Entschlüsselung von E-Mails nach seinem Sicherheitsprotokoll verlangte eine Aufmerksamkeit, zu der mir in jener Woche die nötige Geduld fehlte. Ich steckte mitten in zähen Verhandlungen mit einer großen nationalen Zeitung, die sich noch immer für ein investigatives Flaggschiff hält, über eine Serie, in der ich detailliert die Unterwanderung der Klimaprotestbewegung durch den hiesigen Verfassungsschutz enthüllte. Das ist jener Verein, der mit lachhaften Slogans wie „Im Verborgenen Gutes tun“ und 007-Anspielungen wie „Im Auftrag der Demokratie!“ versucht, Nachwuchsspitzel aller Couleur anzulocken.

Der leidige Kampf ums Honorar erschwert zunehmend ein fokussiertes Arbeiten. Meine Branche befindet sich seit Jahren auf dem Rückzug. Inzwischen sind die großen Gefechte zu vereinzelten Scharmützeln verkümmert. Die „faktische Wahrheit“ wird verzerrt und zum eigenen Vorteil verdreht. Ohne Kontext dient sie als Waffe in dem allseits tobenden Propagandakrieg. Der sogenannte investigative Journalismus der Systempresse hängt zunehmend an der Nabelschnur spendabler Mäzene und Stiftungen. Meine bestenfalls naiven Kollegen betreiben „Feindaufklärung“ für ihre Geldgeber mit dem Ziel, deren politische und ökonomische Gegner zu ruinieren. Getreu dem Motto „Wessen Brot ich ess’, dessen Lied ich sing“, werden die Machenschaften ihrer Finanziers geflissentlich ignoriert. In absehbarer Zeit wird der letzte Widerstand vollends erloschen sein. Alle glauben ohnehin, was sie wollen, und trompeten jeden Schwachsinn als Wahrheit hinaus. Selbst der dümmste Blogger hält sich für einen bedeutenden Aufklärer. Längst haben sich die asozialen Medien zum größten Stammtisch der Welt aufgeschwungen und produzieren hysterische Aufreger, die Wut und Hass erzeugen, weil das Klickraten und Verweildauer befeuert und so den Profit ihrer Investoren steigert. Es geht letztlich um Milliarden, darum werden die Hirnlosen aufgestachelt.

In dem Moment dachte ich jedenfalls, wenn’s wirklich wichtig ist, wird der E-Mail-Sender sich schon wieder melden, und unternahm nichts.

OdysseUS hielt es wohl für wirklich wichtig und hatte es dazu eilig. Seine zweite Nachricht am nächsten Tag enthielt neben einer wiederholten dringenden Aufforderung zur Kontaktaufnahme gleich eine Videoanleitung, wie ich das Verschlüsselungsprogramm installieren und benutzen sollte. Noch bequemer ging’s nicht. Für diese Fälle habe ich extra einen von einem befreundeten Hacker zusammengebauten separaten Rechner, damit sich nicht unbemerkt irgendwelche Spyware oder Trojaner in meinem Hauptcomputer einnisten. Schritt für Schritt war die Installation easy. Wir trafen uns via Tor-Browser, privater VPN und ein paar zusätzlichen Umwegen in einem anonymen Chatraum.

Er sagte: „Ich bin ein großer Fan von dir, Aufdecker.“

Ich sagte: „Prima. Wovon genau?“

„Na, der Artikel über die Whistleblower-Maulwürfe im Auftrag der Geheimdienste zum Beispiel und der über die zweite Spur in den V-Schutz nach den Mordanschlägen der Faschos und dann die Reportage über die Kindermütter von Foča. Aber mein Favorit ist dein Video, wo die libyschen Sklavenhändler auf dich schießen, während du sie filmst.“

Er betete meine ewige Bestenliste herunter. Schmeichler sind erfahrungsgemäß hinterfotzig und deshalb mit Vorsicht zu genießen.

Ich fragte direkt: „Was hast du für mich?“

„Vorher musst du wissen, warum ich das mache.“

„Was genau machst?“

„Warum ich dir diese Infos gebe. Ich –“

„Du willst dich absichern“, würgte ich ihn ab.

„ …“

„Das heißt, du wurdest entdeckt“, sagte ich.

„Nein, niemand weiß, wer ich bin.“

„Du weißt, wer die ,Niemand‘ sind?“

„Ich mache das nicht, weil ich entdeckt wurde, sondern weil alle die Wahrheit erfahren müssen.“

„Warum veröffentlichst du es dann nicht einfach?“

„Was ich dir zu sagen habe, ist nur eine Komponente. Ein erster Baustein. Ich kann ihn nicht und ich will ihn nicht weiterverfolgen – aber ich kann die Angelegenheit auch nicht auf sich beruhen lassen.“

„Wovon redest du die ganze Zeit?“

„Zuerst muss du mir versprechen, dass du der Spur nachgehst und alles ans Licht bringst.“

„Ohne zu wissen, um was es geht, verspreche ich dir gar nichts. Und wenn du es mir sagst, dann verspreche ich dir immer noch nichts. Aber ich werde es mir anschauen und gründlich prüfen. Wenn es einen Ansatzpunkt für mich gibt, dann gehe ich der Sache vielleicht nach.“ Okay, das war ein bisschen dicke.

Er sagte: „Das ist mir zu wenig.“

„Und ich bezahle auch nichts dafür.“

„ …“

„Nimm es oder lass es.“ Noch ‘ne Klatsche.

„Ich will kein Geld von dir. Ich will, dass du mir versprichst, der Sache nachzugehen.“

„Du kennst meine Antwort.“

Lange herrschte nur Stille in der Leitung. Jetzt kam der Punkt, an dem er wie jeder Informant vor ihm entscheiden musste, ob er mir vertrauen wollte oder nicht.

OdysseUS wollte mir offenbar vertrauen, denn er sagte: „Ich habe die Datenbank von XLUTION gehackt.“

Beeindruckend, wenn es denn stimmte. XLUTION ist ein Unternehmen, dass sich Staaten, Konzernen und potenten Oligarchen als militärischer Problemlöser andient. Jerome Fürst, Gründer und CEO, ein übler, aber durchaus geschmeidiger Kriegsverbrecher, unterhält nach Jahren in der Diaspora beste Verbindungen in die Topetagen, wo knauserige Oberbosse sich mehr und mehr für seine Vision von outgesourcten, privatgeführten Auftragskriegen zu Spottpreisen begeistern. Die Kanaille ist fetter Kandidat für einen Enthüllungsknaller, allerdings mit einem exponentiell steigendem persönlichen Untergangsrisiko für jeden Schnüffler. Ich hatte ihn schon länger im Visier, nur fehlte mir bisher ein echter Weg ins räudige Herz der Bestie. Vielleicht bin ich auch einfach nicht so mutig wie der Italiener oder die unzähligen mexikanischen Kollegen, die allem Morden zum Trotz den Mächtigen und aller Welt die Wahrheit vor den Latz klatschen. Ich habe ja nicht mal wirklich Bock darauf, in einem verkackten Hochsicherheitsknast zu landen.

Darum blieb ich skeptisch. „Erzähl keinen Scheiß.“

Er betonte, es sei die Wahrheit. Warum solle er lügen?

Ja, warum? Gespielt gleichgültig sagte ich: „Einfach so gehackt oder um etwas Bestimmtes zu finden?“

„Zuerst musst du’s mir versprechen.“

„Bin ich vielleicht eine Sprechpuppe, die immer dasselbe leiert?“

„Ich habe Topsecret-Material über den nächsten XLUTION-Einsatz.“

Er rieb mir einen verlockenden Köder nach dem anderen unter die Nase, also fragte ich rollengemäß: „Über was für einen Einsatz denn?“

„Ein Killerkommando, mein Aufdecker.“

3

Steht jetzt ein Mitglied dieses Killerkommandos vor mir? Bin ich ein lästiger Mitwisser, der über die Wupper muss? Mein unverschämt charmantes Lächeln jedenfalls lässt die Frau in Schwarz völlig kalt. Mit einer knappen Kopfbewegung beordert sie mich ins Wohnzimmer. Beim Rückwärtsgehen versuche ich, in ihre glitzernden, dunklen Augen und nicht in die dunkle Pistolenmündung zu schauen.

(. . .)

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