Während die Schlinge um den Hals des ahnungslosen Kuriers sich langsam aber stetig zuzieht, nehmen die Probleme mit der Familie kein Ende. Selbstverursachtes Elend, er hätte seine Ex ja nicht heiraten müssen und die Blagen hätte er auch nicht zeugen brauchen. Esther wollte keine Kinder. Er bestand aber auf einem Erben. Jetzt hat er die Blase am Hals. So ist das. Die Vergangenheit ist eben nie vorbei, sie ist nicht einmal Vergangenheit . . .
„Ich wäre auch hochgekommen“, sagt meine inzwischen 18-jährige Tochter nachdem ich auf der Beifahrerseite ihres Smart eingestiegen bin. Heute habe ich anscheinend Familiensprechtag. Zur Begrüßung gibt Sina mir ein flüchtiges Küsschen. Sie trägt einen dunkelblauen Hosenanzug und eine weiße Bluse. Überraschend stilvoll, was ich aber nicht kommentiere, sondern eher harmlos frage: „Na, alles gut mit dir?“
„Du stellst Fragen.“
Ich sage nun, dass ihre Mutter Andeutungen gemacht hätte.
„Was hat sie dir genau erzählt?“
„Nichts. Du kennst sie doch.“
„Dafür hat sie dich extra angerufen?“
„Was denkst du wohl? Jetzt rede schon …“
„Ich brauche Geld, Papi.“
Sie also auch. Ich schaue zum Seitenfenster hinaus und schüttele lächelnd den Kopf. Sie sind alle vom Stamme Nimm.
„Ich kann nicht länger zuhause wohnen.“
„Du machst in vier oder fünf Wochen dein Abi.“
„Es geht einfach nicht mehr.“
„Was ist denn jetzt schon wieder los?“
„Ach, Mama lässt sich andauernd teure Klamotten nach hause liefern, die sie wieder zurückschickt. Sie zieht stundenlang durch Boutiquen und probiert Sachen an, die sie nie kauft, gestern war sie im Supermarkt und hat ihren randvollen Einkaufswagen einfach vor der Kasse stehen gelassen.“
„Wenigsten klaut sie nicht.“
„Hör auf damit, Papa.“
Immer wenn Sina streng mit mir ist, sagt sie Papa. Langsam fange ich wirklich an, mich in ihrer Gegenwart alt zu fühlen. „Wie willst du überhaupt eine eigene Wohnung finanzieren? Du weißt genau, ich kann dir nicht groß helfen.“
„Aber du hast versprochen, mich zu unterstützen.“
„Unterstützen heißt nicht, dir eine Wohnung zu finanzieren.“
Sina schaut auf ihr Telefon. „Ich habe gleich einen Termin.“
Darum also der Hosenanzug. „Ein Vorstellungsgespräch?“
Anstatt einer klaren Antwort erhalte ich eine vage Geste. Sie wird ihrer Mutter immer ähnlicher.
„Wie viel brauchst du denn?“
„Ich denke, du kannst mir nicht helfen?“
„Ein kleiner monatlicher Zuschuss wäre vielleicht möglich.“
„Ich bräuchte fünfhundert“, sagt sie, aber die hast du ja nicht, lese ich in ihrem Blick.
In meine Hosentasche greifend gebe ich ihr einhundert Euro, ein Drittel meines Salärs für eine Kurierfahrt, vielleicht kann ich ihr das Vorhaben noch ausreden. „Lass uns in ein paar Tagen einmal in Ruhe darüber reden, okay?“
„Du bist ein Schatz, Papi.“ Sina gibt mir wieder einen flüchtigen Kuss auf die Wange, der mich hinaus komplementieren soll und startet den Motor. Kohle abgeliefert und tschüss, immer das gleiche. Ich steige nicht aus. Ungeduldig schaut sie mich an: Was noch?
Wenn ich schon einmal dabei bin, kann ich den Familiensprechtag auch komplettieren. „Ich kann deinen Bruder nicht erreichen.“
„Wundert dich das etwa?“