Die Hände in den Jackentaschen vergraben, warte ich vor einem mehrstöckigen Wohnhaus. Fünfzig Meter die Straße hinab verlässt mein Sohn eine Trinkhalle und bewegt sich in meine Richtung. Ich erkenne ihn an der schlaksigen Figur und seinem Gang, er hat viel von meinem alten Herrn abbekommen, auch charakterlich, und das ist wahrlich kein Kompliment . . .
Als er mich bemerkt, verlangsamen sich seine Schritte. „Woher weißt du, dass ich hier wohne?“
„Seine Informanten gibt man nicht preis. Weißte doch.“
„Sina. Die kann echt nichts für sich behalten.“
„Deine Mutter sagt, du hättest dein Studium geschmissen?“
„Deshalb bist du hergekommen?“
Nein, mich treibt mein schlechtes Gewissen, das ich immer kriege, wenn ich an meine Kinder denke. Stattdessen sage ich zu Malte: „Mich interessiert, was mit dir los ist.“
„Weil ich mein Studium geschmissen habe?“
„Malte, vergiss das Studium. Ich frage, was mit dir los ist?“
„Auf einmal? Wenn du’s wirklich wissen willst, ich habe meine Prioritäten verlagert.“
„Etwa auf Geldverdienen?“
„Genau. Ich will fett die Karriere machen. So wie du.“
„Du bist zwanzig Jahre alt. Du hast dein ganzes Leben noch vor dir. Das Fundament für eine Karriere ist eine gute Ausbildung.“
„Laber, laber. Du langweilst.“
„Sag mal, bist du eigentlich so dämlich oder tust du nur so?“
„Sag du mir, was bin ich, ein Versager oder ein Verräter?“
Er hat mir nie verziehen. Ich gebe ihm keine Antwort.
„Wer hat uns denn im Stich gelassen?“
„Irgendwann kommst du noch dahinter.“
„Sei stolz auf dich. Ich habe echt viel von dir gelernt.“
„Das Geld das einzige ist, was zählt, zum Beispiel?“
„Zum Beispiel.“
„Aha, und ohne Geld ist man machtlos und unfrei?“
„Genau wie du. Schau dich nur an.“
Er lässt mich stehen und läuft zu einem gelben Seat, der sich uns auf der gegenüberliegenden Straßenseite nähert. Der Wagen bremst und Malte steigt ein. Der Fahrer sieht nicht zu mir herüber.
Mich überkommt ein Gefühl, als existiere ich gar nicht.
6
Nach fünfzehn Minuten in der Warteschleife des Callcenters erhalte ich immer noch keine Aussage, warum die Versicherung die Zahlung an meine Frau eingestellt hat, stattdessen verweist eine geschulte Männerstimme mich an den Vertrauensarzt. Weil ich mich nicht von dessen Arzthelferin abwimmeln lasse, sitze ich kurz vor Dienstschluss vor seinem für den Feierabend aufgeräumten Schreibtisch.
Der Arzt konsultiert den Computer und schaut mich anschließend über eine tief auf der der Nase sitzende Lesebrille hinweg an: „Es liegt eine Anfrage von Ihrer Versicherung vor, auf die Sie offensichtlich nicht reagiert haben.“
„Darum hat die Versicherung die Zahlung eingestellt?“
„Sie sind inzwischen seit sieben Jahren berufsunfähig.“
„Wollen Sie feststellen, ob ich wieder arbeiten kann?“
„Wir hegen die Hoffnung, sie wieder ins Berufsleben einzugliedern. Eine sinnvolle berufliche Tätigkeit gehört einfach zu einem erfüllten Leben.“
„Was gehört denn noch dazu? Familie vielleicht? Kinder?“
„Harmonische Beziehungen geben dem Leben Stabilität.“
„Bestimmt.“
„Wie sieht Ihr Tagesablauf aus?“
„Was wollen Sie denn wissen?“
„Nehmen Sie Ihre Medikamente?“
„Ja, genau wie verschrieben.“
„Treiben Sie Sport?“
„Ja.“
Fragender Blick vom Arzt.
„Regelmäßig. Im Fitnesscenter. Keine Überanstrengungen.“
„Bewegen Sie sich viel an frische Luft?“
„Ich gehe die meiste Zeit zu Fuß.“
„Kaffeekonsum?“
Unregelmäßig. Vielleicht zwei bis drei Tassen pro Woche. Selten mehr.“ Dass ich nur Kaffee trinke, wenn ich eine Fahrt habe, verschweige ich geflissentlich.
„Bewusste Entspannungsübungen?“
„Solange ich keine Verantwortung übernehmen muss, bin ich relativ entspannt.“
„Wann hatte Sie ihre letzte Panikattacke?“
„Gestern Nacht.“
„Wie schwer?“
„Unverändert, Herzrasen und Schweißausbrüche, die sich aber geben, wenn ich meine Atemübungen mache und die Entspannungs-CD höre.“
Er nickt mechanisch und setzt eine Miene auf, die mir Autorität und Kompetenz suggerieren soll. „Es gibt ein neues Medikament. Die ersten Tests der klinischen Studien verliefen sehr vielversprechend. Ihr Einverständnis vorausgesetzt, würde ich Sie gerne in die Breitenstudie aufnehmen.“
„Verbessert das meine Chance auf Heilung?“
„Ihre Versicherung unterstützt die Studie.“
Aha, so läuft das, denke ich und nicke.
„Einverstanden?“
Ich zucke mit den Achseln: „Habe ich eine Wahl?“
„Es geht ausschließlich um Ihre Gesundheit.“
„Danke, das ist gut zu wissen.“
Der Vertrauensarzt stellt mir ein Rezept aus. „Lassen Sie bitte die nächsten vier Wochen den Kaffee weg.“
„Keinen Kaffee. Notiert.“
„Außerdem sollten Sie mit einer leichten Beschäftigung beginnen. Machen Sie etwas Sinnvolles.“
„Wie Gartenarbeit vielleicht oder Pferde pflegen?“
„Tätigkeiten in frischer Luft sind immer empfehlenswert.“
„Was geschieht jetzt mit meiner Versicherung?“
„Die wird sich bei Ihnen melden, sobald mein Bericht vorliegt.“
„Und wann wird das der Fall sein, wenn ich fragen darf?“
Anstelle einer Antwort setzt der Arzt ein professionelles Lächeln auf. Er weiß natürlich, dass die Zahlungen der Versicherung für mich existenziell sind.
Ich habe den Eindruck, meine Zwangslage gefällt ihm. Ich könnte ihm in die Fresse treten.