Gegen den Abstieg – Auszug 3

Einige Tage vor der Blamage im Arschleder musste Walter erkennen, dass nicht nur mit dem Verein nix mehr war wie früher. Aber diese Episode verschwieg er Jürgen und Günter. Hier sei sie trotzdem verraten . . .

Walter lehnte in der Durchreiche der Trinkhalle und studierte die Zeitungsauslagen. In Schweden hätte man verstärkt Radioaktivität gemessen, stand da fett, und jetzt wurde vermutet, dass irgendwo hinter dem Eisernen Vorhang eine nukleare Panne passiert sei. Ein Käseblatt fragte prompt, ob uns allen nun der Strahlentod drohe.

In dieser Sekunde kam Prinz Pauli wieder nach vorn. Das war der Spitzname des einarmigen Rentners, der nachmittags in der Trinkhalle aushalf, wenn ihr Besitzer Ismail seine Runde im Puff hinterm Hauptbahnhof drehte, um den Mädchen Präservative, Gleitcreme und andere Arbeitsutensilien frei Haus zu liefern.

Prinz Pauli stellte Walter vier kalte Kronen-Export vor die Nase. Drei verschlossen und eine geöffnet.

„Hö’ ma. Ich lese gerade“, sagte Walter.

„In der WAZ steht eh nur Scheiße.“

„Ich lese die Ruhrnachrichten.“

„Da kannste auch gleich Kaffeesatz lesen.“

„Haste welchen?“

„Für’n Heiermann hole ich ihn dir wieder aus’m Mülleimer.“

„Du einarmiger Bandit.“

Prinz Pauli lachte, dass der Stumpen seines abgetrennten Armes wackelte.

Wenn er genügend getankt hatte, vertraute Prinz Pauli seinem jeweiligen Thekennachbarn ungefragt an, wie ihm der linke Arm abhanden gekommen war. Die Geschichte variierte je nach Kneipe und Promillegrad. Weil er überwiegend in der Marktschänke soff, galt diese Version als die wahrscheinlichste: Pauli, damals nannte ihn noch niemand Prinz, hatte demnach versucht, einen Hundertmarkschein vor einem Häcksler zu retten und wollte den Lappen auch dann noch nicht loslassen, als das Schnetzelwerk angeblich seinen halben Unterarm verschlungen hatte. (Der Vollständigkeit halber muss erwähnt werden, dass auch diese Version in skeptischen Trinkerkreisen als unwahrscheinlich galt. In diesem Falle galt wie auch in anderen Fällen, der Unterhaltungswert einer Geschichte toppt immer ihren Wahrheitsgehalt.)

Walter griff sich die offene Flasche, sagte: „Wenn verstrahlt, dann mit Pils. Prost“, und trank einen großen Schluck.

„Darfst nicht jeden Scheiß glauben, der in der Zeitung steht. Als ob wir bei der Saison einen Grund zum Strahlen hätten.“

„Ich soll wohl lieber dir glauben, wat?“

„Da kannste aber für.“

Ismails Trinkhalle lag inmitten der rechts und links von Mehrfamilienmietskästen aus den 1950er Jahren gesäumten Kolbestraße. Schäbige Hütten, alle grau in grau, deren Putz einen Anstrich dringend hätte vertragen können. Die Wohnungsbaugenossenschaft wusste jedoch mit dem Geld besseres anzustellen. Zum Beispiel für den Vorstandsvorsitzenden und seine Kegelbrüder einen Badeurlaub in Thailand zu finanzieren. Das zumindest behauptete Ismail. Der sollte es schließlich wissen. Seine Informantinnen wurden regelmäßig auf die Herrenabende des Vorsitzenden eingeladen. Und der dicke Genossenschaftsboss hätte angeblich bei Tik, einem fleißigen Thaimädchen vorgefühlt, was sie als Dolmetscherin haben wollte, wenn er ihr einen 14-tägigen Heimaturlaub spendieren würde.

Nur Meerblick ist schöner, woll?

„Also, wat is jetzt mit dem Kaffeesatz?“, fragte Prinz Pauli. Heutzutage war er froh, wenn er einen kleineren Scheinen ergattern konnte.

„Wenn du mir die Lottozahlen vorherlesen kannst, kriegste deinen Heiermann“, sagte Walter.

„Lieber nicht, du kannst so schlecht mit Geld umgehen“, erwiderte Prinz Pauli. Er wusste, wie geizig, vor allem aber wie nachtragend Walter war, wenn die Vorhersagen nicht stimmten, und ging lieber zurück nach hinten, um weiter neue Ware auszuzeichnen.

Walter griff seine drei ungeöffneten Bierflaschen mit der einen Hand an den Hälsen und die geöffnete mit der anderen und schlenderte die hässlichen Mietsbaracken entlang. Dabei sang er leise vor sich hin: „ … und er trägt sein Leder am Arsch, fallara … und er fickt gleich seine Frau, trallala.“

Im Gehen nahm Walter einen weiteren Schluck Bier und röhrte lauter: „ … Glücks auf, Glücks au-hau auf, dem Steiger kommt’s …“

Dann stutzte er, denn eine schmale Frau mit zwei großen, gepackten Koffern kam ihm entgegen.

Die Frau war Viola, seine langjährige Freundin. Sie machte Haare und sah auch sonst wie eine dumme Friseuse aus: blonde Strähnchen und ordentlich aufgedonnert. Ismail hatte Walter mal verraten, dass Friseusen neben Krankenschwestern die Berufsgruppe wäre, in der sich die meisten Pornodarstellerinnen vor ihrem Karrieresprung in die Horizontale versuchten. Allerdings war Viola nicht dumm, sondern ziemlich schlau, wie Walter fand, sie war schließlich mit ihm zusammen.

Verblüfft ließ er sie passieren, nippte reflexartig an der Flasche, als ob Trinken sein Denkvermögen erhöhen würde, und latschte ihr hinterher. Allerdings ohne Anstalten zu machen, ihr mit den schweren Koffern zu helfen. Er hatte schließlich selbst beide Hände voll.

Stattdessen sagte er: „Na, Mäusken, wo willste denn ohne dein Walter hin? Innen Urlaub?“

„Inne Bedenkpause“, sagte Viola.

„Wo ist dat denn?“

„Bei meine Mama.“

Walter kapierte nicht. „Wat soll’n dat jetzt?“

„Tu nicht so, als ob du dat nicht wüsstest.“

„Wie jetzt?“

„Meine restlichen Sachen hole ich morgen früh ab.“

„Wieso?“ Walter nahm schnell noch einen Schluck Kronen.

Inzwischen hatte Viola ihren roten Manta II erreicht und wuchtete die beiden Koffer in den Kofferraum.

„Dann denk mal nach, du Superhirn. Denken hilft.“

„Bei wat?“

Ohne zu antworten, stieg Viola in den Manta und startete den Motor.

Walter fühlte sich ziemlich verwirrt und bedröppelt. Er rief ihr nach: „Ich brauch gar nicht denken! Ich kapier auch so.“

Nur hörte Viola ihn da schon nicht mehr. Ihr Opel schoss auf die Straße, als konnte sie nicht schnell genug von ihm wegkommen.

„Bedenkpause am Arsch.“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert