Kaum hat W geantwortet, stößt der Bodyguard den gefesselten Jungen in die Rippen, damit er das Maul aufmacht. Aber bevor er etwas sagen kann, tönt Ws Stimme erneut aus dem Lautsprecher des Handys …
„Wo steckst du überhaupt, Digger, ich suche dich überall?“
„Ich musste kurz was erledigen.“
„Kurz ‘ne Tusse durchwemsen, was?“
„Schwall nicht. Wo bist du?“
„Im Café.“
Der Bodyguard tippt mit dem Zeigefinger auf seinen goldenen Breitling-Chronometer.
Der Junge kapiert. „Warte da auf mich, bin in zehn Minuten da.“
„Hey –“
Da hat der Bodyguard die Verbindung bereits unterbrochen.
Zehn Minuten darauf halte ich mit dem Wagen in Sichtweite des Cafés. Augenblicklich kommt ein junger Mann heraus. Ohne nach rechts oder links zu schauen, überquert er diagonal die Straße in Richtung Trinkhalle. Der gefesselte Junge, dem inzwischen wieder der Mund zugeklebt wurde, nickt mehrfach. Eilig steigt der Bodyguard aus.
Ich beobachte, wie er dem jungen Mann etwas zuruft und zu ihm hinübertrabt. Die beiden reden kurz miteinander, kommen dann zum Auto. Der Bodyguard öffnet die linke Fondtür. Intuitiv blickt der junge Mann zu mir und versucht, wegzurennen, ehe er seinen gefesselten Kumpel gesehen haben kann. Doch der Bodyguard verdreht ihm blitzschnell den Arm und stößt ihn grob auf die Rückbank. Dieses Mal fahre ich erst los, nachdem die Tür geschlossen ist.
Ein Blick in den Rückspiegel verrät mir, warum der junge Mann weglaufen wollte. Ich erkenne ihn ebenfalls wieder … und bekomme einen Schweißausbruch. Es ist der Typ, in dessen gelben Seat mein Sohn Malte vor einigen Tagen eingestiegen ist. FUCK! FUCK! FUCK!
Meine Gedanken rasen. Die Lichter der Stadt wabern in unscharfen Schlieren vor meinen Augen. Ich kann die Straße kaum erkennen. Der Passat gerät ins Schlingern.
„Hey!“, brüllt der Bodyguard mich an. „Bist du besoffen?“
Hektisch lenke ich gegen und stabilisiere den Wagen.
Ich muss mich entspannen, ich muss meine Tabletten nehmen, ich muss die Gedanken verbannen, die mir durch den Kopf jagen. Ich darf nicht daran denken, dass Malte in die Sache verwickelt sein könnte. Wenn der Bodyguard das rauskriegt, glaubt er sofort, ich hätte den Überfall vorgetäuscht und die Jungs angeheuert. Das macht zwar keinen Sinn, wäre für diesen Brutalo aber absolut folgerichtig. Er würde mich in Stücke reißen … Krampfhaft umklammern meine Hände das Lenkrad.
Formelhaft wiederhole ich still: „Nicht daran denken, nur nicht dran denken, am besten überhaupt nicht denken.“ Hinter mir ist das Ratschen des Kabelbinders und des Klebebandes zu hören.
Hoffentlich …
Der Seatfahrer ist ohnmächtig. Der Bodyguard hat ihn in wenigen Sekunden wie seinen Komplizen an Händen und Füßen verschnürt und den Mund zugeklebt.
Danke. Ich atme tief durch. Danke. Mein Augenblick der Wahrheit ist fürs Erste aufgeschoben.
Ohne in den Rückspiegel zu schauen, frage ich den Bodyguard: „Wohin?“ Mein Hals ist trocken, meine Stimme klingt belegt.
Keine Antwort. Schließlich sehe ich in den Rückspiegel und sein eisiger Blick trifft mich, als müsste ich es längst wissen …