Deutschland zeigt Flagge und tritt demonstrativ als Nebeninterventionspartei vor dem Internationalen Gerichtshof auf, damit das von Südafrika angestrengte Verfahren wegen Völkermordes gegen Israel nicht zu Ungunsten des Beklagten ausgeht. Denn die 84 Seiten umfassende Klageschrift hat’s in sich. Sie begründet minutiös und detailliert, warum der Staat Israel gegen die Palästinenser einen Völkermord begeht. Schon die Anschuldigung ist für die deutsche Staatsräson offenkundig inakzeptabel. Darum weist die Bundesregierung sie auch in ihrer offiziellen Stellungnahme „entschieden und ausdrücklich“ zurück. Der Wortlaut aus Berlin ist mit den Verlautbarungen aus Washington nahezu identisch. So ein Zufall …
„Dieser Vorwurf entbehrt jeder Grundlage“, erklärte Regierungssprecher Hebestreit. Und der muss es schließlich wissen, denn die „Bundesregierung sei angesichts der deutschen Geschichte und der Schoah der Völkermordkonvention besonders verbunden. Diese sei ein zentrales Instrument des Völkerrechts, um das ,Nie wieder‘ umzusetzen.“
Gut zu wissen, nicht wahr? Nur was bedeutet das konkret?
Das „Nie wieder“ deutscher Staatsräson beziehen die Bundesregierungen seit Adenauer ausdrücklich auf den Staat Israel, anstatt es als zentrale Lehre aus Holocaust und Völkermord im Zweiten Weltkrieg auf alle „verfolgten und unterdrückten“ Völker und damit auch auf die Palästinenser gleichermaßen zu beziehen. In älteren Blogbeiträgen wurde die offizielle Haltung bereits seziert. (Siehe LINK am Ende der Seite.)
Zwar behauptet der Regierungssprecher: „Einer politischen Instrumentalisierung (des Völkermordes) entschieden entgegen zu treten“, doch betreibt die Bundesregierung das Gegenteil. Ihre Handlungen sind politisch und ideologisch motiviert. Das ist kein leichtfertiger Vorwurf. Der „Kadavergehorsam“, euphemistisch Bündnisloyalität, gegenüber den USA und die „Kadavertreue“, euphemistisch Staatsräson, gegenüber der Politik der Regierung Israels schließt eine unvoreingenommene menschliche und juristische Betrachtung des grausamen Geschehens in Gaza aus.
Südafrika belegt seine Anschuldigungen ausschließlich mit öffentlich zugänglichen Aussagen der israelischen Regierung, allen voran von Premierminister Netanyahu, ferner Videobeweisen, Zeugenaussagen und Berichten des israelischen Militärs, von israelischen Überlebenden, von den Palästinensern sowie von unabhängigen Beobachtern und UN-Mitarbeitern.
LINK: Die 84-seitige Klageschrift Südafrikas in Englisch (automatischer PDF-Download) …
https://www.icj-cij.org/sites/default/files/case-related/192/192-20231228-app-01-00-en.pdf?__cf_chl_tk=b3dJlfk.WG7GbvEJkzXwDGusUKFChABPiJ9l0Oa5AzI-1705391309-0-gaNycGzNDVA
LINK: Tembeka Ngcukaitobi präsentiert Südafrikas Anschuldigungen dem IGH …
Die Gegenargumentation von Israel zielt stark darauf ab, Südafrikas Motive zu diskreditieren, indem sie die politischen Beziehungen des Landes mit Hamas anprangert. (Israel war ein großer Unterstützer des weißen Apartheidsstaat Südafrika, hat ihm sogar zu Nuklearwaffen verholfen. Warum wohl?) Ein britischer Völkerrechtler auf Seiten Israels argumentiert gegen die Anschuldigungen wie folgt …
LINK: Israels Verteidigung, Genozidexperte Malcolm Shaw stolpert durch seine Gegenargumentation …
Bezeichnend ist, dass der britische Völkerrechtler Shaw seiner Argumentation ausgerechnet eine Aussage von EU-Kommissionschefin von der Leyen voranstellt:
„Die Hamas, die vom Iran unterstützt wird, will Israel von der Landkarte tilgen. Wir müssen die Demokratien beschützen. Denn wenn wir das nicht tun, wird sich das Grauen ausbreiten. Das Grauen, das ich letzten Freitag in Israel in Kfar Aza erlebt habe. Sechs Tage vor meinem Besuch war es noch ein lebendiger Kibbuz mit 750 Einwohnern. Aber am 7. Oktober kam die Hamas um 6.00 Uhr in der Frühe. Ich sah ausgebrannte Häuser, einen blutverschmierten Kindersitz, Trümmer, Einschusslöcher, nicht explodierte Granaten. Es war eine Geisterstadt. Das Blut, das die Hamas-Terroristen vergießen wollten, kannte keine Grenzen.
Sie gingen von Haus zu Haus. Sie verbrannten Menschen bei lebendigem Leib. Sie verstümmelten Kinder und sogar Säuglinge. Und warum? Weil sie Juden waren, weil sie im Staat Israel lebten. Und das erklärte Ziel der Hamas ist es, das jüdische Leben im Heiligen Land auszulöschen. Diese Terroristen, die von ihren Freunden in Teheran unterstützt werden, werden niemals aufhören. Und deshalb hat Israel das Recht, sich im Einklang mit dem humanitären Recht zu verteidigen. Und angesichts dieses Horrors gibt es für demokratische Nationen wie uns nur eine mögliche Antwort. Wir stehen an der Seite Israels.“ –Ursula von der Leyen, Rede vor dem Hudson Institute, 19.10.2023
Ihre zwölf Tage nach dem Angriff gemachten Behauptungen über „Babymorde, Verstümmlungen von Kindern und Brandschatzen seitens Hamas“ sind inzwischen eindeutig widerlegt worden – und zwar von der israelischen Presse und teilweise dem israelischen Militär selbst. Dass sie beinahe drei Monate später noch immer als „Beweise“ vor dem IGH angeführt werden, zeigt, es geht nicht um die Wahrheit und eine Widerlegung der Anschuldigungen, sondern um deren Spin, ihre Verdrehung und um Gegenanschuldigungen.
Frau von der Leyens Behauptungen enthalten darüber hinaus weitere Falschaussagen zu Hamas (z.B. deren Ziel sei die Vernichtung Israels, Hamas hat davon Abstand genommen), ergeht sich in netanyahuscher Propagandapolemik, schießt gegen den Iran als Mutterschiff des Bösen in der Region und behauptet allen Ernstes, es gehe um Demokratie und die Pflicht, den Anfängen zu wehren.
LINK: Clare Daly liest der EU-Kommissionschefin die Leviten …
Der Münchner Völkerrechtler Christian Walter spricht sich für eine Nebenintervention Deutschlands aus. Er differenziert zwischen Verstößen gegen die Völkermordkonvention und dem Tatbestand des Völkermords:
„Wie und ab wann aus einer Zusammenschau massiver militärischer Gewaltanwendung und (teilweise schwer erträglicher…) Äußerungen von politischem Führungspersonal und anderen Amtsträgern während einer anhaltenden militärischen Auseinandersetzung in einer Art Gesamtbetrachtung auf die vom Tatbestand des Völkermords verlangte „Absicht, […] eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“ geschlossen werden kann, wird eine der zentralen Rechtsfragen im laufenden Verfahren sein.“
Wohl aber, fügt Walter an, dürfen plausible Gegenauslegungen (sie haben’s nicht so gemeint, es wurde bildlich gesprochen, um den Ernst der Lage zu beschreiben, usw., MiC) nicht unbeachtet bleiben.
Und unterstellt Israel im Sinne deutscher Staatsräson:
„Bei den von Israel ergriffenen Maßnahmen gibt es eine solche plausible alternative Deutung. Sie besteht darin, dass diese darauf abzielen, das Terrornetzwerk der Hamas zu zerstören, aber nicht die Absicht verfolgen, die palästinensische Bevölkerung zu vernichten. Auch wenn die hohe Zahl an Toten unter der Zivilbevölkerung und die enormen Sachschäden entsetzlich sind, so belegen sie dennoch nicht zwangsläufig die Absicht des Völkermords.“
Eine interessante Aussage. Ebenso interessant ist folgender Satz des Uni-Professors:
„ … diese historische Verantwortung (bedeutet), dass Deutschland nach Kräften auf eine sachgerechte Auslegung und Anwendung der Völkermordkonvention gerade im Nahen Osten hinwirkt.“
Darf ich das so verstehen, Herr Walter, dass Deutschland demnach unabhängig und unparteiisch gegen sämtliche Verstöße gegen die Völkermordkonvention, egal, wer sie begeht, vorgehen muss?
Der Völkerrechtler beklagt dann, dass der IGH nur ein eingeschränktes Instrumentarium habe, um das Massenmorden in Gaza zu beurteilen, und könne zwischen Verstößen gegen die Völkermordkonvention und Völkermord nicht wirklich differenzieren.
LINK: Völkerrechtler Walters Ausführungen im Ganzen …
Als ahnungloser Leihe erkenne ich einen juristischen Drahtseilakt in der Argumentation von Herrn Walter. Flapsig formuliert:
Die nicht zu leugnende unverhältnismäßige Kriegsführung und das Massenmorden an den Palästinensern könnte ein Verstoß gegen die Völkerrechtskonvention sein, da aber das Gericht leider nur Völkermord „ja oder nein?“ entscheiden und nicht differenzieren kann, sind die Anschuldigungen zurückzuweisen.
Oder habe ich da etwas falsch verstanden?
Ach ja, die Absicht fehlt. Sind das nicht die von Netanyahu und anderen gemachten teilweise schwer erträglichen Äußerungen? Die Bundesregierung sagt dazu kategorisch nein und Herr Walter eher nun ja irgendwie doch nicht?
Ungeachtet der juristischen Haarspalterei kann die Haltung eines moralischen oder einfach mitfühlenden Menschen doch nur sein:
Massenmord ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wer zum Massenmord aufruft und zugleich den Apparat in Bewegung setzt, dass dieser ausgeführt werden kann und ausgeführt wird, macht sich des Tatbestands des Vorsatzes schuldig.
Hmm … ist das Handeln Israels nun Genozid oder nur ein Verstoß gegen die Völkerrechtskonvention?
(N.B. Weder Netanyahu noch die anderen radikalen Lautsprecher der israelischen Regierung haben übrigens ihre hetzerischen, zum Massenmord aufrufenden Äußerungen jemals relativiert, geschweige denn zurückgenommen. Die Kampfhandlungen gehen selbstverständlich weiter. Ach, und jetzt sucht man „Partnerländer in Afrika, in die die Palästinenser freiwillig immigrieren können“. Warum wohl? Um Gaza human ethnisch zu säubern?)
Angesichts der dem IGH vorgetragenen Postionen von Südafrika und Israel, die jeder anhören und nachlesen sollte, dürft ihr euch selbst ein Urteil bilden, Leute, ob die Anschuldigung im Sinne der Definition eines Genozids zutrifft oder nicht.
NACHTRAG 22.01.24:
Wie jeder einigermaßen Interessierte mittlerweile weiß, hat Namibias Präsident Geingob an die Bundesregierung appelliert, ihre voreilige Position, Israel vor dem IGH beizustehen, zu überdenken. Unsere staatsräsonistischen Gutmenschen werden einen Teufel tun. Außerdem wird der Genozid, den deutsche Herrenmenschen zwischen 1904 und 1907 an den Herero und Nama verübt haben, schließlich mit der Rückgabe von geraubten Kunst- und Kulturgegenständen und einer Handvoll Euro Entwicklungshilfe ungeschehen gemacht. Die Nachfahren der Opfer waren in den Gesprächen übrigens nicht involviert. Warum nicht? Ist Deutschlands Betroffenheits- und Vergangenheitsbewältigungskultur etwa rassistisch oder versucht man sich möglichst billig herauszustehlen, weil wichtigere Aufgaben im kriegerischen Dienste von Obermaxes Imperium hohe finanzielle Mittel erfordern?
Frage: Gibt es etwas Niederträchtigeres als die Selbstgerechtigkeit bourgeoiser deutscher Politiker, Historiker und Völkerrechtler?
Hier der aktuelle Zwischenstand von Israels wahrgenommenem „Recht auf Selbstverteidigung“ …
LINK: 100.000 Palästinenser getötet, vermisst oder verwundet …
https://euromedmonitor.org/en/article/6093/On-100th-day-of-Gaza-genocide:-100,000-Palestinians-killed,-missing-or-wounded
Unabhängig davon, wie das Urteil des IGH ausfällt, es wird an der Politik des Westens und Israels nichts ändern. Das Morden und die Eskalation gehen weiter.
Jetzt will unsere weise Bundesregierung die Amis und die Briten auch gegen die Huthis unterstützen – richtigerweise muss es Ansar Allah heißen –, die aus Solidarität mit den Palästinensern Frachtschiffe an der Passage ins Rote Meer mittels Raketenbeschuss und anderen Maßnahmen hindern; welche Ansar Allah nach eigenem Bekunden übrigens einstellen will, sobald das Morden in Gaza aufhört.
Und der Westen?
Der hat darauf seine ewig gleiche Antwort: militärische Gewalt. „Operation Wohlstandswächter“, kein Witz, bedeutete zunächst Geleitschutz für die Frachter durch Kriegsschiffe und jetzt Bomben auf jeminitische Stellungen und den Flughafen von Sanaa. Im Jemen herrscht seit 2014 Bürgerkrieg und die USA unterstützen massiv Saudi Arabien, um das ärmste Land des Nahen Ostens in die Knie zu zwingen. Klappte bislang nicht, trotz Dauerbombardement, Embargo, Hungersnöten usw. Der Israel-Gaza-Konflikt droht nun ernsthaft auszuweiten.
Wir erinnern uns an Hotte Köhlers erhellendes Diktum: „Krieg, um Handelswege freizuhalten, die für unseren Wohlstand wichtig sind, ist eine Aufgabe deutscher Außenpolitik.“
Ergo muss Deutschland dabei sein. Schade, dass die Rumpeltruppe noch nicht kriegstüchtig ist, denn dann könnten die schon sicher die Zähne fletschenden übergewichtigen Landser*Innen – ob die nur bei dem Haufen sind, weil sie nirgendwo sonst unterkommen? – sofort von der Kette gelassen werden.
Zum Abschluss konkret nachgefragt: Wenn das Urteil des IGH zu Ungunsten Israels ausfällt, welche Konsequenzen wird die Bundesregierung dann daraus ziehen?
Hey, war nur Spaß. Die Antwort weiß jeder, der ein Loch in den Sand pinkeln kann. Wie lautet sie wohl? Natürlich: Nie wieder! Heißt das, also keine? Aber sicher.
LINK: HIntergrundinformationen zu Südafrika und die Apartheid von 1948-1994 …
https://www.thoughtco.com/when-did-apartheid-end-43456
LINK: Mehr zu Deutschland, Israel und Palästina …