Das marode Assad-Regime ist implodiert: Bashar al-Assad hat in Moskau Asyl erhalten, nachdem sein Militär kampflos den „moderaten Rebellen“ wich. HTS haben in Damaskus den Präsidentenpalast und das staatliche Fernsehen übernommen. Was geschieht jetzt? Die Frage stellt sich im Hinblick auf den Krieg im Libanon, wo momentan eine brüchige Waffenruhe herrscht, dem Verbleib der russischen Militärbasen in Syrien, vor allem aber, was für ein Regime entsteht nun in Syrien, oder droht eine Fortsetzung des Bürgerkriegs und weiteres Leid? Dazu Hintergründe, Kontext und Auswirkungen …
1. Die USA haben 2011 mit der Operation „Timber Sycamore“ Waffen nach Syrien geschmuggelt und den Krieg gegen das verhasste Assad-Regime begonnen. Gemeinsam mit der Türkei, Saudi-Arabien und den Golfemiraten finanzierten sie radikale islamistische Terrororganisationen mit Milliardenbeträgen. Der Marktetingbegriff „moderaten Rebellen“ sollte diese Terroristen akzeptabel machen. (N.B. Das waren die gleichen PR-Maßnahmen mit denen die Neonazis des AZOV-Battalions in der Ukraine aufgehübscht wurden.) 2016 wurde nach Eingreifen der Russen, des Iran und Hisbollah aufseiten der Assad-Regierung der Bürgerkrieg „eingefroren“.
2. Hayat Tahrir al-Sham, abgekürzt HTS ist der neue Name dieser „moderaten Rebellen“, dahinter verbergen sich mörderische sunnitische Organisationen wie Al-Nusra-Front und ISIS, die sich der Sharia verpflichtet fühlen und behaupten, als einzige die „Wahrheit Gottes“ zu repräsentieren. Sie verkörpern „Werte“, die angeblich sämtlichen westlichen Überzeugungen zuwiderlaufen, aber in Washington, Brüssel und London niemanden interessieren, weil globale Strategien verfolgt werden. Darum werden diese Extremisten instrumentalisiert. Wir erkennen die Muster der CIA, die die muslimische Bruderschaft und die Mudschaheddin unterstützte, und Israels, das die Hamas förderte.
3. Kurzer historischer Abriss: a) Al-Nusra-Front ging aus Al Quaeda hervor, das die Anschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center und das Pentagon verübte (Wir erinnern uns: Der heutige Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan schrieb 2011 an die damalige Außenministerin Hillary Clinton: In Syrien ist Al Quaeda auf unserer Seite.); b) ISIS wurde infolge des Irak-Krieges gegründet und führte u.a. das öffentliche Kopfabschlagen, zuletzt nur noch in Saudi-Arabien praktiziert, in den zeitweilig besetzten Gebieten Syriens und Iraks wieder ein; c) Israel unterstützte ISIS gegen Assad und HTS behauptet von sich, kein Feind Israels zu sein. Ob dies so bleibt, wird sich zeigen.
4. Der Angriff der HTS Rebellen wurde lange vorbereitet und höchstwahrscheinlich mit der Türkei, der CIA, NATO und Israel koordiniert. Denn kaum war die Waffenruhe zwischen Israel und Hisbollah vereinbart, schlug HTS los. Israel hatte zuvor noch gezielt die Straßenverbindungen zwischen Libanon und Syrien bombardiert, damit a) Hisbollah weder Nachschub vom Iran über den syrischen Landweg für den Krieg im Libanon erhalten kann, noch b) ihre Kämpfer wieder in Syrien das Assad-Regime unterstützen können. Der HTS-Angriff ist Teil der westlichen Strategie gegen Russland und seine Verbündeten. Und um diese zu schwächen, ist dem Westen jedes Mittel recht.
Journalist Pepe Escobar formuliert es so:
Die Zeitleiste erzählt die Geschichte.
- November: Ronen Bar, der Chef des israelischen Shin Bet, trifft sich mit den Leitern des MIT und des türkischen Geheimdienstes.
- November: NATO-Chef Mark Rutte trifft sich mit dem türkischen Sultan Erdogan.
- November: Salafistische Dschihadisten, die von Hayat Tahrir al-Sham (HTS), ehemals Nusra-Front,
unterstützt von türkischen Geheimdiensten und einer starken Rent-a-Dschihad-Koalition, starten einen blitzschnellen Angriff gegen Aleppo.
Laut einer Quelle der syrischen Spezialdienste, die mit RIA Novosti sprach, spielten ukrainische Berater die Schlüsselrolle bei der Einnahme von Aleppo – sie stellten Drohnen und amerikanische Satellitennavigations- und elektronische Kriegsführungssysteme zur Verfügung und unterrichteten syrische Kollaborateure und Mitglieder der Islamischen Partei Turkestans im Umgang mit diesen Systemen.
(Quelle: The Syria riddle: How it may turn into the First BRICS War, Pepe Escobar, Strategic Culture, 4.12.24)
5. Die Uniformen, Ausrüstung und Waffen von HTS belegen, dass sie massive finanzielle Hilfe vom Westen und der Türkei erhalten und die Zeit seit 2016 intensiv genutzt haben, sich auf diesen Moment vorzubereiten. (Natürlich ließ der trickreiche türkische Präsident Erdoğan offiziell verlauten, er hätte von dem Unterfangen nichts gewusst, obwohl es heißt, Aleppo gehöre zur Türkei. USA und NATO sind nach eigenem Bekunden ohnehin immer unschuldig.) Zugleich wurde das Assad-Regime vom Westen mit harschen Sanktionen belegt, die ihre Handlungsmöglichkeiten stark einschränkten, den Staat aushöhlten, die Gesellschaft vollends korumpierten und mit ein Grund waren, die Armee zu demobilisieren. Unter den Sanktionen litt vor allem aber die Bevölkerung, weil es an den notwendigsten Gütern mangelte.
6. Die geschätzten 100.000 HTS-Kämpfer, größtenteils Söldner aus verschiedenen muslimischen Ländern, waren seit 2016 „sich selbst überlassen“. (Ein Fehler von Assad und den Russen, oder weil es ihnen schlichtweg nicht möglich war, die Terroristen zu besiegen?) Das Assad-Regime kontrollierte in den letzten 8 Jahren nur rund 60% Syriens. Der Rest teilt sich im Wesentlichen in zwei Gebiete, a) die Region um Idlib, beherrscht von HTS unter der Oberaufsicht der Türkei; b) eine weitere Region im Nord-Osten, welche die USA mit rund 900 Soldaten und ihrer Luftwaffe wegen des Erdöls und des Getreides kontrollieren; dazu haben auch die Kurden eine kleine Region unter ihrer Kontrolle. (Wir erinnern uns: Es sei die Aufgabe, wie Trump einst ausführte, das syrische Öl für die USA zu sichern – welches über die Türkei nach Israel geliefert wird, um den völkermordenden Militärapparat am Laufen zu halten.)
7. Der langfristige US-Plan, der nach dem 11. September 2001 von der Regierung George Bush jr. entwickelt wurde (wahrscheinlich aber schon vorher in der Schublade lag), hatte zum Ziel, den gesamten Nahen Osten im Sinne der USA und ihrer sogenannten „Rules Based Order“ (Euphemismus für Washingtons Willkürherrschaft) umzugestalten. Nach Afghanistan – geografisch nicht im Nahen Osten gelegen – sollten sieben weitere Staaten, Irak, Syrien, Libanon, Libyen, Iran sowie Sudan und Somalia per erzwungenen Regimewechseln ins westliche Lager gezogen werden. Militärisch waren Afghanistan und Irak ein Fiasko, finanziell ein grandioser Erfolg für den Militärisch-Industriellen-Komplex, die Vermögensverwalter (BlackRock et al.), den korrupten US-Kongress und die Systemmedien. (In Libyen, Sudan und Somalia herrschen mehr oder weniger grausame Bürgerkriege, der Libanon ist ein völlig geschwächtes, wirtschaftlich runiertes Staatsgebilde.)
Ein „neuer Nahen Osten“ entsprechend US und israelischem Gusto ist noch immer das Ziel. Sie streben unverändert Regimewechsel in Syrien und Iran an. In Syrien ist Bashar al-Assad nun geflohen und islamistische Terroristen beanspruchen die Macht. Damit haben Hamas und Hisbollah einen wichtigen Nachschubweg über Land und der Iran einen wichtigen Verbündeten verloren. Die „Achse des Widerstandes“ ist erheblich geschwächt. (Was bedeutet das für den Freiheitskampf der Palästinenser?) Die Russen werden ihre auf 49 Jahre gemieteten Basen in Syrien behalten wollen. Israel hat bereits eine Sicherheitszone auf syrischem Gebiet im Golan eingenommen und ist dabei, schweres militärisches Gerät der syrischen Armee sowie Waffenproduktionsstätten zu zerstören. Geht der langfristige Plan der USA, NATO und Israels auf? Strategisch haben sie zunächst einen für sie bedeutsamen Sieg erzielt.
8. Die rasante Entwicklung wirft viele ernste Fragen für das Land auf: Wie werden die islamistischen neuen Machthaber regieren, vergleichbar mit den Taliban in Afghanistan oder ISIS in ihrem einstigen Machtbereich? Welche Auswirkungen hat das auf die diversen Religionsgemeinschaften Syriens? Was sind die Konsequenzen für die bislang relativ freie Gesellschaft in Bezug auf Frauen- und Minderheitenrechte? Wird das Rebellenbündnis überhaupt halten oder droht eine Neuauflage des Bürgerkriegs oder drohen gar libysche Verhältnisse? Außerdem stehen die Kurden wieder im Fokus, deren separatistische Bemühungen die Türkei unterbinden will. Was ist mit den Millionen syrischen Flüchtlingen sowohl den Binnenflüchtlingen als auch denen im Ausland? Wird es eine Heimkehrerwelle geben oder eine erneute Flüchtlingswelle? Eines wird relativ schnell zutage gefördert werden, das Ausmaß der Gewalt und Unterdrückung des autoritären Assad-Regimes nach innen.
9. Im Angesicht der neusten Ereignisse in Syrien stellen sich ebenso brennende Fragen für die weitere Ordnung im Nahen Osten und die Auswirkungen auf den Globalen Süden. Fakt ist, die Welt hat sich seit 2001 massiv gewandelt. Die Macht der USA (und ihres eifrigen G7-Gefolges ehemaliger Kolonialmächte) mit Drohungen, Sanktionen, Farb-Revolutionen (wie sie gerade in Georgien versucht wird), Sabotage (z.B. Nord Stream, Wahlen in Rumänien), gezielten Tötungen (z.B. der iranische General Suleimani) und Stellvertreterkriegen (z.B. Ukraine) jeder Nation ihren Willen aufzuzwingen, ist deutlich an ihre Grenzen gestoßen. Auf der Gegenseite haben sich die ökonomische Weltmacht China, die alte/neue militärische Weltmacht Russland, die BRICS-Staaten sowie der globale Süden mehrheitlich wider der unipolaren Weltherrschaft der USA in Stellung gebracht. Damit sind nicht nur zunehmende Konflikte zwischen den rohstoffreichen Ländern und dem rohstoffarmen Westen vorgezeichnet, die nukleare Kriegsgefahr war noch nie so groß wie heute. Der Ukrainekrieg ist nur einer der akuten Brandherde, im zweiten haben sich gerade die Kräfteverhältnisse neu sortiert, wodurch die Lage möglicherweise noch brenzliger geworden ist, und der dritte in Taiwan schwelt ebenfalls weiter.
SCHLUSSGEDANKEN
Und wir Deutschen? Wir stecken mittendrin, von unserem Boden geht schon lange wieder Krieg aus, denn wir haben uns komplett den USA unterworfen und müssen lt. Politiktäter und Systempresse für den globalen Konflikt kriegstüchtig werden, damit die „großartigen Errungenschaften“ der unipolaren Ami-Herrschaft erhalten bleiben. Neben der ewigen Mär von Frieden, Freiheit, Demokratie und Menschenrechte heißt die neuste Begründung Handelswege sichern. Schließlich geht es um unseren Wohlstand! Und die Vorstellung, den zu verlieren, macht allen ordentlich Angst. (Gegen wen soll die Herrlichkeit eigentlich verteidigt werden? Gegen die ganze Welt?)
Max Säger meint: Wer derartig verantwortungslose Mandatsträger (Euphemismus für Befehlsempfänger) in Regierung und Bundestag hat, braucht sich um Frieden und Sicherheit keinen Kopf mehr zu machen. Beide haben sich erledigt. Das mit dem Wohlstand übrigens auch, der verabschiedet sich vor unseren Augen. Zumindest für uns 99%. Stimmt’s?
Mal so am Rande: Wann soll noch mal wer warum gewählt werden?