Heimelige Weihnachtszeit: Hirnentkernte Touris strömen von den Rändern der Feiermetropole, wo sie ihre Karren auf Park-&-Ride-Plätzen zurücklassen, per Straßenbahn ins Partyherz zu den sich an nahezu jeder Straßenecke anbiedernden seelenlosen Weihnachtsmärkten. Für die diesjährige Bescherungsattacke quetschte ich mich trotzdem in die überquillende Sardinendose auf Schienen, um in der Innenstadt die Spießerbuchhandlungen meines Misstrauens abzuklappern. Vielleicht lauert auf den 1-Euro-Grabbeltischen der ein oder andere Anarcholesestoff zur Erbauung der buckeligen Verwandtschaft. O-Zitat eines Schwippschwagers 3. Grades letzte Weihnachten: „Aber nächstes Mal nicht Band 3 von Das Kapital schenken, Karl Marx ist schließlich kein Karl May und dieser Fetischismus der Ware toppt schon gar nicht Winnetou …“
Hört, hört!
Anstatt mit einem Klassiker der sozialen Aufklärung, wollte ich dieses Jahr darum mit etwas Zeitgemäßem aufwarten. In Bobbys Bücherkiste fiel mein Blick auf einen neuen Thriller, der Wahrnehmung und Realität thematisiert. Titel und Autor der 800 Gramm schweren Hardcover-Schwarte habe ich gleich wieder vergessen, denn der Prolog des Romans empfahl mir, besser eilig weiterzusuchen. Das Thema jedoch, an dem der Schreiber sich abmühte, regte für drei oder vier Minuten meine Gedanken an.
Besagtem Stoff liegt die Hypothese zu Grunde, die Menschheit lebe in einer Simulation. Mit der gebührenden kulturellen Verspätung, immerhin über 20 Jahre nach The Matrix, kaut sein Verfasser auf einem Gedankenspielchen herum, dessen Ideen die Wachowskis bereits von der in den 1990-ziger Jahren erchienenen Vertigo-Comic-Serie The Invisibles abgekupfert hatten (welche selbst bei Jean Baudrillard Anleihen nahm, der wiederum bei den Upanishaden – Stichwort Schleier der Maya – oder Platos Höhlengleichnis Inspiration für seine Überlegungen fand. Ach ne, Baudrillard schaute auf das Frankreich der Trente Glorieuses, die Wirtschaftswunderjahre hemmungslosen Konsumerismus’ …)
Scheinbar brandaktuell also der Stoff, denn in unserer zunehmend von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz dominierten Zeit verschwimmt die greifbare Realität. Greifbar ist nur noch das Blödfon, mit dessen kostenpflichtiger Hilfe der lockende virtuelle Abgrund der asozialen Medien erlebbar ist.
In The Matrix reduziert sich der Schritt zur Erkenntnis auf das Schlucken einer entweder roten oder blauen Pille. Die eine Chemiekeule hüllt den Probanden weiter in die tröstliche Welt der Täuschung ein, die andere schleudert ihn in die schonunglose Härte der Erkenntnis.
Bei Adam und Eva war es der Biss in die Frucht der Erkenntnis, landläufig als Apfel identifiziert, durch den die Menschheit auf ewig das Paradies verlor (und damit den monotheistischen Religionen ihre Existenzargumentation verschaffte). Erkenntnis ist also schmerzhaft und Gott übel nachtragend.
Bei The Matrix ist die Realität ebenfalls der reine Schrecken. Nämlich die Erkenntnis, wir werden bis aufs Blut ausgebeutet. Buchstäblich. Und was geschieht mit dieser Erkenntnis?
Nichts.
Denn die Auflösung im Film ist wieder einmal der übliche Heldenquark. Hollywoods Hampelheinis strampeln sich ab, damit alles bleibt, wie es ist. Die aufwendige Eskapismusaction gibt sich nur den Schleier philosophischer Tiefgründigkeit. Schon das Original ist albern. Jeder Aufguss egal in welcher Form ist es erst recht.
Eskapismusentertainment dient allein den Interessen der Eigentümerklasse. Es führt im wahren Leben zu keinen gesellschaftlichen Konsequenzen, sondern verstärkt nur die 4-fache Entfremdung des Menschen (von der Arbeit, der Natur, den Mitmenschen und sich selbst). Er hockt im Gefängnis des Falschen. Wofür die Entertainmentbranche selbstverständlich weitere Ablenkung als Heilmittel anbietet.
Um die Erkenntnis von The Matrix et al. zu „realisieren“ mussten Kalle M. und Friedel E. im 19. Jahrhundert nur die reale Welt der Arbeiter (Produktionsverhältnisse) im elterlichen Engelschen Betrieb und bei dessen Wettbewerbern betrachten. Die gierigen Herren über die Produktionsmittel (die Bourgeoisie) hatten die Arbeitsbedingungen ihrer Lohnsklaven (das Proletariat) voll im Sinne der Profitmaximierung organisiert. Die frühkapitalistische Fabrik produzierte darum nicht nur Waren, sondern zugleich den Widerstand gegen die Produktionsverhältnisse, gegen die Ausbeutung und die Macht der Eigentümerklasse. So gebar der Kapitalismus der Logik des Prinzips von Ursache und Wirkung folgend zwangsläufig den Kommunismus.
Die erlebte individuelle Wirklichkeit der Arbeiter war keine Simulationsphantasie, sie entsprach der faktischen Realität in den Fabriken.
An dieser Stelle kurz der Unterschied zwischen Realität und Wirklichkeit. Realität ist faktisch belegbar und nicht zu leugnen. Um es mit Philip K. Dick zu sagen: „Realität ist das, was übrig bleibt, wenn du aufgehört hast, daran zu glauben.“ Wirklichkeit ist der individuelle Wahrnehmungsfilter jedes Einzelnen von uns, der die faktische Realität „filtert und damit auflädt“, d.h. ihr Auslegung und Bedeutung gibt. Unsere Filter sind nicht objektiv, sondern durch charakterliche Neigungen, persönliche Erfahrungen und Beobachtungen, übernommene Lehren sowie mediale Beeinflussung, in Summe, durch unsere „Ideologie“ geprägt.
Die omnipräsente mediale „Dauerpropaganda“ der herrschenden Eigentümerklasse und ihrer Eliten zwingt jeden von uns zu einer sachlichen Auseinandersetzung mit seiner sogenannten „Wirklichkeit“, um potenzielle Fallgruben und Fehlschlüsse zu erkennen. Das ist eine „Daueraufgabe“. Wem die kritische Meinungsbildung durch umfassende Faktensammlung und analytisches Denken zu lästig ist, der wird immer das Opfer von Manipulation durch Systempropaganda sein, die als „Nachrichten“, „Expertenbeiträge“, „offizielle Stellungnahmen“, „Ansprachen“, „Regierungserklärungen“ usw. daherkommen.
Seine (geistige) Freiheit und Unbabhängigkeit muss man sich wieder und wieder erkämpfen.
Sowohl die rote Pille als auch die blaue Pille hat jemand produziert (von wegen, sie wären nur Metaphern). Und dieser Jemand hat die Herrschaft über die Produktionsmittel und damit über uns alle. Das hat sich seit Marx’ und Engels Zeiten nicht geändert. Es ist noch viel schlimmer geworden, die Eigentümerklasse will alles privatisieren (nach Wasser bald auch saubere Luft), um abzukassieren. Egal, was wir uns in unserer „Wirklichkeit“ ausmalen, vorstellen, einbilden, erhoffen, unsere Existenz ist letztlich nur auf einer materiellen Basis möglich.
Da können uns Religionen, spirituelle Gurus, das Internet, die Cyberwelt und die KI der Silicon-Valley-Oligarchen vorgaukeln, was sie wollen. Am Ende geht es immer um Materielles, religiös gesprochen, um etwas „Fleisch gewordenes“. „Selbst wenn es nur das Fleisch der Opfer ist, das von den Bomben der Kriegstreiber dieser Welt zerfetzt wird“, wie Max Säger gerade von hinten reinruft.
Die letzten Worte gehören unserem Thekenphilosophen, der meint, anstatt abgestandenen Kölsch in diesem Moment perlenden Sekt zu schlürfen:
„Also scheißt auf die besinnungslose Weihnachtszeit, den gregorianischen Steuerkalender und erst recht auf die „Erlösung“ durch irgendwelche Heldidioten, Leute. Solange das herrschende System der Ausbeutung fortbesteht, dessen immer perfideres Instrumentarium uns zu reinen Objekten der Profitmaximierung degradiert und nach erfolgter Ausbeutung „entsorgt“, können die Feste fallen, wie sie wollen. Anlass zum Feiern ist kein einziges von ihnen. Ein Fest mit Feuerwerk schon gar nicht. Es sei denn, die Datenzentren und Server der Herrschenden explodieren und brennen komplett aus. Dann, liebe Gemeinde, fallen Aschermittwoch und Himmelfahrt auf einen Tag. Sorgen müsst ihr dafür allerdings selbst. Halleluja!“
Auf der anderen Seite ist’s auch nicht anders. (zypriotische Hirtenweisheit)