KURIER – Story 10

Kurier braucht dringend Geld, hat aber einen verantwortungsvolleren Job ausgeschlagen, weil er seit seinem Burn-out keinen Stress aushält. Jetzt ist er umso mehr darauf angewiesen, dem enttäuschten Boss zu beweisen, dass er auf ihn setzten kann, ausgerechnet da geht alles schief . . .

Bis dreißig Kilometer vor der Grenze läuft diese Nacht alles wie bei jeder Fahrt. Ich habe den Wagen pünktlich auf dem Parkplatz in Rotterdam abgestellt, an der Fischbude ein Fischbrötchen gegessen, einen Kaffee getrunken und die Zeitung gelesen. Ich habe den Autoschlüssel wieder unter dem linken hinteren Kotflügel hervorgeholt, auf der Autobahn die Geschwindigkeitslimits beachtet sowie ausreichenden Abstand eingehalten. Heute Nacht herrscht noch weniger Verkehr als gewöhnlich, sonst wären mir die beiden Lichtpunkte, die mir in großer Entfernung folgen, vielleicht gar nicht aufgefallen. Zwischendurch verliere ich sie aus den Augen, aber nach einigen Minuten erscheinen sie wieder im Rückspiegel. Ein, zwei Manöver später bin ich sicher, die folgen mir.

Das Schild ,Bundesrepublik Deutschlandʻ fliegt vorbei. Ich nehme den Fuß vom Gas und passiere mit Tempo 30 den auf eine Spur verengten Grenzübergang. Schnell Geschwindigkeit aufnehmend überhole ich einen Sattelschlepper, bevor ich wieder auf die rechte Fahrbahn ziehe. Mir schlägt das Herz bis zum Hals. Endlich erscheint eine Ausfahrt, unauffällig das Tempo verringernd schalte ich kurz vor dem Ende der Abbiegerspur das Fahrzeuglicht aus, um mit einem schnellen Rechtsschwenk die Autobahn zu verlassen. Unten an der Kreuzung fahre ich sofort wieder rechts, nach ein paar Hundert Metern links und dann weiter geradeaus über Land. Ich passiere zwei kleine, dunkle Ortschaften. Das Fahrzeuglicht schalte ich erst wieder ein, nachdem ich sicher bin, die Verfolger abgehängt zu haben. Einige Kilometer später sehe ich das Schild Parkplatz. Als ich hinter den Bäumen anhalte und die Hände vom Lenkrad nehme, zittern sie stark. Mit Mühe schlucke ich zwei Tabletten, würge sie trocken herunter. Ich öffne den Anschnallgurt, umklammere wieder mit beiden Händen das Lenkrad und lehne meine Stirn dagegen. Ich suche die Starttaste. Leise erklingt die Entspannungsmusik und die vertraute warme Frauenstimme sagt zu mir: „Einatmen und ausatmen … ein–“ Plötzlich wird die Fahrertür aufgerissen und ich werde von mehreren Typen gepackt und nach draußen auf den Asphalt geschleudert …

… in meinem Kopf vollendet die warme Frauenstimme ihren Satz: „Du bist eins mit den innersten Schwingungen des Universums“, und ich denke, das ist doch jeder Tote. Jetzt liege ich regungslos auf dem Asphalt und starre in den Nachthimmel hinauf, bis meine Augen zu tränen beginnen. Nach einigen Momenten keuche ich, atme immer schneller, hyperventiliere … bekomme eine Panikattacke und schreie meine Angst laut in die Nacht hinaus. Als mir die Stimme versagt und ich nur noch krächzen kann, herrscht endlich Stille. Ich denke, du musst dich zusammenreißen, du musst versuchen, klar zu überlegen …

Im Fahrzeug befindet sich ein Notschlüssel. Er steckt in einer Plastikhülle hinten im Handbuch. Den haben die Typen zum Glück übersehen. Mit zittrigen Händen benötige ich mehrere Anläufe, bevor es mir endlich gelingt, den Schlüssel herauszunehmen. Ich starte das Fahrzeug und rolle langsam los. Die Tragweite dessen, was passiert ist, ergreift immer mehr Besitz von mir. Eine zweite Welle schier unbeschreiblicher Angst erfasst mich. Ich trete auf die Bremse, schiebe kraftlos die Fahrertür auf, lehne mich weit hinaus und kotze so lange, bis nur noch bittere Galle aufsteigt.

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