Das System überschwemmt uns Konsumenten förmlich mit zunehmend individualisiertem Entertainment nach der Prämisse „jedem seine Nische, jeder ihr Plaisirchen“. Es wird aus dem Markt für den Markt produziert. Die neue Vielfalt ist aber rein äußerlich . . .
Metapher fürs Leben?
Entertainment besteht überwiegend aus hirnlosem Fast-Food, was seine Macher und Verkäufer selbstredend negieren. Wir haben längst den Punkt der Luxuskonsumption überschritten und werden buchstäblich von einem Angebot überschwemmt, das locker zu 90% in einem übereinstimmt: Die vorherrschenden Zustände werden hingenommen, wenn nicht gepriesen. An ihren Erscheinungen und Verwerfungen arbeiten sich die fiktionalen „Helden“ – schon hier setzt erfolgreich die Vereinzelung an – unermüdlich und teilweise unter größten Opfern ab. Die grundsätzliche Wahrheit jedoch, dass unsere (bürgerliche) kapitalistische Gesellschaft auf Ausbeutung und Verbrechen beruht und folglich alles, was ihr entspringt, diesen Makel trägt, wird selten erhoben. Und das sorgt für fortwährende kognitive Dissonanzen beim Publikum, die häufig nur nicht artikuliert werden.
(Als einzig positive Bewegtbild-Ausnahme in 2020 fällt mir nur „Aus der Spur“ mit Eric Cantona ein. Diese großartige französische Miniserie dekuvriert komplett das System. Sie bleibt trotz ihrem ironischen Ende aber darin gefangen und untermauert damit die nachfolgenden Überlegungen.)
Kritik und ihre Rekuperation
Was nützt es, wenn z.B. The Economist einen Roman von Jean-Patrick Manchette rezensiert und die Kritik des Autors an unserer Gesellschaft in ihrer Besprechung mit den Worten ihren Lesern empfiehlt: „Die Dosis harscher Realität, die Manchette seinen Lesern vermittelt, täte der eskapistischen, anämischen Crime Fiction der Gegenwart gut.“ Damit erfolgt die Rekuperation (in der Definition der Situationisten), die kulturelle Vereinnahmung der Kritik durch das System und macht sie wirkungslos. Das Magazin ist schließlich ein Lautsprecher dieses Systems, eventuelle Kritik seinerseits bezieht sich höchstens auf eine bestimmte Art des Wirtschaftens innerhalb dessen, nicht auf die vorherrschende Ordnung als solche. Folglich ziehen The Economist, aber auch The Wall Street Journal, The Financial Times, die FAZ, Süddeutsche, um stellvertretend weitere zu nennen, nie die richtigen Schlüsse. Würden sie dies nämlich ernsthaft tun, müssten sie ihre Publikation sofort einstellen, weil es ihr Geschäftsmodell, ihre Daseinsberechtigung ad absurdum führt – falls implodierende Werbeeinnahmen und sinkende Abonnentenzahlen ihnen diesen Schritt nicht abnehmen.
Das System von innen zu unterwandern, hatte Manchette schon nach 1976 als sinnlos erkannt. (So betrachtet ist seine 1977 getroffene Aussage, in Zukunft nur noch gut unterhalten zu wollen, ein Versuch mit der persönlichen Niederlage – gemessen am postulierten eigenen Anspruch – umzugehen.)
Die wahre fiktionale Großtat: den Helden doppelt zu isolieren
Daniel Dafoe, der mit „Robinson Crusoe“ einen der ersten wirklich populären modernen Romane schuf, machte bereits aus dem Gestrandeten einen einsamen Kämpfer und Gutmenschen, bewahrte er doch den armen Freitag davor, als Kannibalenschmaus zu enden. Ihn nach seinem richtigen Namen zu fragen, kam Defoe/Crusoe aber nicht in den Sinn. Am Ende wurde der treue eingeborene Gefährte mit in die englische Zivilisation „gerettet“.
Den Einzelnen in der Fiktion glorifizierend auf sich selbst zurückzuwerfen, bedeutet der Vereinzelung ideologisches Futter zu geben. Isoliert von der Gemeinschaft entwickelt der bindungslose Leser/Zuschauer eine starke Beziehung zu dem stellvertretend für ihn kämpfenden „Helden“ und identifiziert sich mit ihm. Die Glorifizierung färbt so auf ihn selbst ab. (Zum tieferen Verständnis der Voraussetzungen dafür sind die Arbeiten von Emile Durkheim, besonders das Buch „Der Selbstmord“ sehr aufschlussreich. Durkheim zeigt darin, wie die Entwurzelung auf die Psyche der Entwurzelten schlägt und ihren Lebenswillen zerstört.)
Die Struktur für seinen Film „Star Wars“ entlehnte George Lucas seinerzeit Joseph Campbells „Der Held mit den tausend Gesichtern“. Das Werk – auch bekannt als „Die Reise des Helden“ – ist eine vergleichende Analyse der Mythen sogenannter primitiver Gesellschaften mit dessen Hilfe Campbell das Modell einer archetypischen Reise eines heranreifenden Menschen aufzeigte, die in nahezu allen Kulturen ähnlich war. Soweit so gut. Nur hat der gute Lucas nichts wirklich begriffen. Warum nicht?
Die Heldenreise in einer von Campbell beschriebenen funktionierenden Gemeinschaft ermöglicht es dem so initiierten, ein Teil dieser Gemeinschaft zu werden. Das bedeutet, sie war eine Reife- und Aufnahmeprüfung in diese Gemeinschaft, die alle anderen Gemeinschaftsmitglieder ebenso durchlebt hatten. Das findet bei Lucas nicht statt, auch wenn sein Held die Prüfung meistert und Gefährten findet, er bleibt außen vor. In einer entfremdeten Gesellschaft wie der unsrigen bestätigt die dem Kontext entrissene Heldenreise den Einzelnen in seiner grundsätzlichen Isolation und manifestiert damit wieder und wieder die bestehende, krankmachende Ordnung.
Fazit: Selbst wenn der Held seine Aufgabe löst, wird er den zentralen Missstand, das System nicht beseitigen können, sondern sich damit abfinden müssen oder weiter revoltieren oder krepieren.
Philosophie als individualisierte Rechtfertigung des Systems
Der Nihilismus (vereinfacht: sämtliche Werte sind bedeutungslos) und der Existenzialismus (vereinfacht: nur die eigenen existenziellen Erfahrungen zählen) sind zwei grundsätzlich verschiedene Denkmodelle, die trotz ihrer Unterschiedlichkeit in ihrer Wirkung dem vereinzelten Menschen seine Isolation anschaulich rational begründen. Dadurch laden sie den als befremdend oder leidvoll empfundenen Zustand mit „Sinn“ auf, sie machen ihn erträglich oder transformieren ihn gar zu einer offensiven Haltung, indem sie das Negative ins vermeintlich Positive verkehren.
Eine absolute Pervertierung ist der sogenannte „Objektivismus“ von Ayn Rand, einer emotional gestörten Frau, die ihren individuellen Versuch der Sinnaufladung, ihre subjektive Deutung der Welt nach ihren Erfahrungen in der Sowjetunion anmaßend als „objektiv“ bezeichnetet, um schon durch die Namensgebung den Anspruch auf Wahrheit zu erheben. Nichts an ihren Prämissen und den daraus resultierenden „logischen Folgerungen“ ist objektiv. Sie spiegeln vielmehr ihre eigene Entfremdung wieder.
Rand bediente sich des Systems, das dem Einzelnen die Chance auf größtmöglichen persönlichen Reichtum und damit Unabhängigkeit und Macht vorgaukelt, den materiellen Kapitalismus und koppelte ihn offen mit dem ihm ohnehin zugrunde liegenden Egoismus (der jedem von uns innewohnt). So entfesselt gibt es eine doppelte Rechtfertigung für rücksichtsloses ichbezogenes Handeln. Sie äußert sich in Aussagen wie: Ich bin sozial, weil ich es will, nicht weil es die Gemeinschaft erfordert.
Diese Umkehrung und Heraushebung des Einzelnen ist bei Rand entscheidend. Sie verneint damit schlichtweg die Tatsache, dass ein Mensch alleine gar nicht überleben kann. Was der Kapitalismus dennoch behauptet und scheinbar tagtäglich bestätigt, indem er alles aufs Geld reduziert, mit dem man sich das „Lebensnotwendige“ kaufen kann. Komplett alleine, wirklich unabhängig zu überleben, wird damit als eine rein ökonomische Problematik formuliert. Zugleich ist sie die zentrale Prämisse des herrschenden konsumgetriebenen, finanzialisierten Kapitalismus: Alles ist käuflich.
Die auf dem Papier vielleicht zunächst befreiende Erkenntnis eines unabhängigen Ichs bedeutet in Wahrheit nur das Verschieben der Abhängigkeit – vom Humanen zum Materiellen. Jetzt wird die Bedeutung und Fetischisierung klar, die dadurch zwangsläufig Geld bekommt. Es ist in diesem System das einzige Mittel, welches dem Einzelnen Freiheit und die Erfüllung aller Bedürfnisse und Wünsche „garantiert“. Der Nächste wird obsolet.
Die Folgen von über 40 Jahren Rand-Ideologie in den Top-Etagen von Politik und Wirtschaft – Neoliberalismus genannt – durchleben wir jeden Tag: Polarisierung der Gesellschaft, Verlustängste der Mittelschicht, Verelendung der Unterschicht bei gleichzeitig überbordendem, explosionsartig wachsendem Reichtum der 0,01%, dazu hemmungslose Ausbeutung der Umwelt etc.
Der Philosoph des „der Gemeinschaft unbewusst dienenden Eigennutzes“ ist Adam Smith. Die meisten kennen seinen gern zitierten, aus dem Zusammenhang gerissenen Ausspruch der „invisible hands“: Der Kapitalist würde mit seinem eigennützlichen Handeln „unsichtbaren Händen“ gleich Gutes für das Gemeinwesen tun, ohne dass er dies beabsichtige. Nur war und ist das Denkgebilde Smiths und sein Ausspruch keine Beschreibung der Wirklichkeit, sondern eine reine Utopie, gespeist aus den Gedanken von Thomas Hobbes, welcher fälschlicherweise im „Kampf aller gegen alle“ die Urform menschlicher Gemeinschaft vermutete. Das kaufmännische Geschäft, der Deal als moralischer Akt. Im 18. Jahrhundert mochte diese Vorstellung für einen Theoretiker angesichts der herrschenden Umstände vielleicht noch erstrebenswert erscheinen. Aufgrund der Geschichte, den Analysen von Marx und Engels und den Erkenntnissen der Anthropologie, insbesondere den Werken von David Graeber, den man wirklich preisen muss (RIP David), sind nicht nur die Behauptungen von Smith und Co. längst völlig widerlegt, derartiges Denken ist heute geradezu gemeingefährlich, weil es echter vertrauensvoller Kooperation auf nationaler und internationaler Ebene entgegensteht.
Schließlich geht es im Kaptalismus immer um den eigenen Profit/Vorteil in einem Deal, bei dem die Parteien i.d.R. weder gleichberechtigt noch gleichstark sind. Im Gegenteil, der Stärkere bestimmt, über sticht unter. Jetzt wird der aufmerksame Leser einwenden, aber es gibt doch die UNO und viele positiv wirkende Organisationen, die genau deshalb auf Kooperation und Ausgleich setzten.
Ja natürlich, nur wie sieht die wirtschaftliche Realität aus? Und wer bestimmt nach wie vor weitestgehend die Regeln von z.B. Welthandelsorganisation, Internationalen Währungsfonds und Weltbank, und warum sind diese Regeln, wie sie sind? Also neoliberal.
Die Antwort: Weil die einzige verbliebene, wenn auch im Niedergang befindliche, globale Supermacht mit den drei Großbuchstaben unvermindert den Ton angibt.
Wiederkäuen bis zum Magendurchbruch
Fiktion ist bei den börsennotierten Medienkonzernen ein gestreamlineter profitmaximierter Umsatzgenerator. Die kranke, opportunistische Ideologie Hollywoods setzt konsequent auf den vereinzelten Helden/Superhelden, selbst wenn diese neuerdings ständig in Gruppen auftreten. Sie perpetuiert unablässig die Märchen (Narrative) des Kapitalismus. Kürzlich erst kündigte Disney zehn oder mehr neue „Star Wars“- und „Marvelsuperhelden-Serien“ an.
Dieser endlos wiedergekäute Mampf ist der größte globale ideologische Schmierstoff für das vorherrschende System und sein zerstörerisches Gedankengut. Er wird ausnahmslos weltweit akzeptiert, denn der Kapitalismus hat wie Mikroplastik längst den ganzen Erdball verseucht. (Apropos die immer wieder behauptete spezifischen kulturelle/gesellschaftliche Kritik in diesem Entertainmentscheiß: Sie wird um des lieben Umsatzes willen gerne zensiert. Schließlich möchte kein Konzern auf Pfründe verzichten, nur weil er irgendwelchen wichtigen Machthabern, Regierungen oder Institutionen auf die Füße tritt.)
Was lernen wir daraus? Es gibt nichts Richtiges im Falschen.
Tolle Aussichten. Zum Glück formiert sich an den Rändern der Widerstand.