MANCHETTE, DER NÉO-POLAR UND DIE SÉRIE NOIRE – Teil 1

1972 erschien in der Série Noire Jean-Patrick Manchettes vierter Polar NADA. Die fünfzigjährige Wiederkehr der Erstveröffentlichung ist Anlass, sich mit der Série Noir im Überblick, dem Néo Polar im Allgemeinen sowie L’Affaire N’Gustro – der letztes Jahr seinen Fünfzigsten beging – und natürlich mit Nada im Besonderen zu beschäftigen . . .

Wo wir schon beim Kerzenausblasen sind, der amerikanische Literaturprofessor Russell Williams schrieb 2015 zum 70zigsten Geburtstag der Série Noire (auch SN genannt):

Laut Georges Bataille gibt es eine tiefe Verbindung zwischen der Literatur und dem Bösen. Wenn Schreiben und Lesen Grenzüberschreitungen oder gar Verbrechen sind, die philosophische Wahrheiten über uns und unsere Welt aufdecken, was enthüllt dann die Kriminalliteratur – ein Genre, das sich auf diese Grenzüberschreitungen konzentriert?

Antwort: Die vorherrschende Ideologie, welche die Macht und die Kontrolle über die Gesellschaft ausübt. – Was sonst?

Ernest Mandel erklärte dazu in Meurtre exquis:

Die Geschichte des Krimis ist eine Sozialgeschichte, denn sie erscheint mit der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft selbst verwoben zu sein … Weil die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft die des Eigentums und der Negation des Eigentums ist, also die des Verbrechens und weil die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft auch die eines wachsenden, explosiven Widerspruchs zwischen individuellen Bedürfnissen und den mechanisch erzwungenen Mustern des gesellschaftlichen Konformismus darstellt.

(Randnotiz: Heute schließen die „erzwungenen Muster des gesellschaftlichen Konformismus“ natürlich die Verlagerung vom Analogen ins Virtuelle ein. Die digitale Herrschaft über unser Leben wird dazu völlig undemokratisch von wenigen Konzernen und Milliardären ausgeübt.)

Das wohl wichtigste und einflussreichste Krimi-Imprint, das vor philosophischen und politischen Themen nicht zurückschreckt, ist die Série Noire des französischen Verlagshauses GALLIMARD.

TAGEBUCHNOTIZ JEAN-PATRICK MANCHETTE

Freitag, 3. April 1970

Robert Soulat schrieb bzgl. der Série Noire, um sich mit mir zu treffen und über N’Gustro zu sprechen. Ich habe ihn heute Nachmittag gesehen.

Der Text hat gefallen, missfallen, schockiert. Die Reaktionen waren teils technischer Natur und stichhaltig, teils schlichtweg Unsinn. Butrons Viktimisierung der intellektuellen Linken wurde so falsch verstanden, dass Soulat erwartete, einen paranoiden Fallschirmjäger zu treffen.

Insgesamt werden von mir recht umfangreiche Korrekturen verlangt. Ich werde sie durchführen. In die Série Noire aufgenommen zu werden, ist wichtig.

SCHLAGLICHTER SN HISTORIE I

Die Série Noire wurde im September 1945 von Marcel Duhamel gegründete, der sie bis zu seinem Tode 1977 auch leitete. Duhamel stand der surrealistischen Gruppe um Jacques Prévert und André Breton nahe und übersetzte Steinbeck und Hemingway ins Französische.

Das Imprint konzentrierte sich zu Beginn auf die Übersetzung englischer und amerikanischer Krimis. Es profitierte unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg von der in Frankreich herrschenden Begeisterung für die englischsprachige Welt. Daneben versuchten auch französische Autoren wie Jean Amila sich in der Série Noire zu etablieren. Aber sie hatten es anfangs schwer und veröffentlichten zunächst unter englischsprachigen Pseudonymen, weil das Genre von der Leserschaft scheinbar als „amerikanisch“ wahrgenommen wurde.

Ab dem Jahr 1948 erschienen die Ausgaben der Série Noire in ihrer charakteristischen schwarz-gelben Aufmachung.

In den 1950er Jahre prägten dann zunehmend französische Autoren die Sammlung. Namen wie Albert Simonin, Dominique Ponchardier und Auguste Le Breton stachen hervor.

LINK Mehr zur Geschichte der Série Noire in französischer Sprache . . .

https://www.gallimard.fr/Divers/Plus-sur-la-collection/Serie-noire/(sourcenode)/116270#

Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahren kam es zu einer Stagnation. Das lag wohl auch an der rapide zunehmenden Fülle von Titeln, die um die Aufmerksamkeit des Publikums konkurrierten. Denn aufgrund des Erfolgs der Série Noire waren Wettbewerber wie Fleuve Noir und die Presses-de-la-Cité-Collection Un Mystère entstanden, die Autoren neue Plattformen boten und natürlich kräftig um die Leserschaft buhlten. Sie erreichten jedoch weder die Verkaufszahlen noch die Reputation des Originals.

(Randnotiz: Die Série Noire war auch das Vorbild für viele deutsche Krimireihen, wie z.B. Ullstein-Krimis, Rowohlt-Thriller, Mitternachtskrimis, Bastei-Lübbes Schwarze Serie usw.)

Jean-Patrick Manchette – in rauchverhangenen, fernen Tagen

DER NÉO-POLAR

Infolge des Mai 1968 etablierte sich in der französischen Kultur ein linkes, revolutionäres Bewusstsein. Das setze sich auch in der bis dato behäbigen, von den Gangstern und dem pitoresken Milieu um den Place Pigalle geprägten, eher rechten französischen Kriminalliteratur durch. Der Mai 68 stand für das politische Erwachen einer ganzen Generation französischer Autoren. Viele sollten später für die Série Noire schreiben.

Jean-Patrick Manchette brannte nach ersten Arbeiten für Film und Fernsehen darauf, bei der SN veröffentlicht zu werden. Er verstand seine Thriller als Vorlagen fürs Kino und schrieb sie einerseits mit diesem Ziel (visuell, actiongetrieben, temporeich, kaum Gedanken/innere Monologe, filmreife Dialoge), andererseits brachte seine Nähe zu den Situationisten einen weiteren wichtigen Aspekt in ihre Konzeption: Nämlich die Überzeugung, dass die Kultur tot ist und von der herrschenden Wirtschaftsordnung völlig vereinahmt wurde. Demnach ist ein Kulturgut eine Ware wie jede andere, die für einen Markt geschrieben wird, der Krimi also ein „billiger“ Lesestoff für die Massen, die Unterhaltung suchen (Paraliteratur). Manchette entschloss sich, das Prinzip der subversiven Unterwanderung (Détournement) der Situtionistischen Internationale auf seine Arbeit als Kriminalschriftsteller zu übertragen.

Der traditionelle Soziokrimi schildert Milieus und soziale Probleme anhand von Kriminalstories. Die „guten“ Ermittler lösen den Fall, schütteln ihre Köpfe oder seufzen ob so viel Ungerechtigkeit und Benachteiligung in dieser Welt, stellen aber mit dem Dingfestmachen der Täter die Gerechtigkeit wieder her. Der Staat ist schließlich ein Rechtsstaat und die Vertreter der Staatsgewalt, die Polizisten sind um das Wohl und Wehe der ihnen schutzbefohlenen Gesellschaft bemüht.

Manchette teilte keinesfalls diese verlogene und äußerst debile Weltsicht, auf der hierzulande 99,9% aller Krimis beruhen, sondern attackierte sie mit seiner besonderen Herangehensweise an den Polar. Seine Schreibe war das Instrument zur „gewaltsamen sozialen Intervention“ und der Entlarvung der Lügen und Verbrechen des Systems, der herrschenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung und ihrer kriminellen Repräsentanten.

Für Manchette war der Polar als „Krisenliteratur“ vor allem kein klassischer Kriminalroman, sondern ein Echo der auffälligen Wiederholung der Geschichte auf den zerrissenen Straßen von Paris und anderswo (Mai 68 als Echo der Revolte von 1848 und der Pariser Komune 1871). Charakteristisch ist der besondere Ton, in dem Gewalt und düsterer Realismus dominieren. Diese Schilderung der Gewalt zielte auf die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit ab; auf die politische Korruption und die soziale Ungerechtigkeit, die Allmacht der Reichen und die Ohnmacht des Einzelnen. Das waren die Hauptthemen in den 1970er-Jahren, vor allem nachdem Manchette ab 1976 nicht mehr an eine Änderung der Verhältnisse glaubte. Die Konterrevolution hatte wieder einmal gesiegt. So empfand er die Wahl Mitterands zum französischen Präsidenten 1981 (der erste „sozialistische“ Präsident war ein ehemalige Handlanger des Vichy-Regimes, den nur seine eigene Macht und Herrlichkeit interessierte) im Gegensatz zu vielen anderen Linken als absolute Infamie und finalen Todesstoß.

(Randnotiz: Die Politikvollstrecker Thatcher, Reagan, Mitterrand und Kohl, die vier Reiter der neokonservativen Apokaplyse, schickten sich an – brav den Empfehlungen und Vorgaben ihrer „Wirtschaftseliten“ folgend – mit Derregulierung den Kapitalismus hemmungslos zu entfesseln und die sozialen Errungenschaften von 150 Jahren Widerstand und Arbeitskampf sukzessive abzutöten.)

Manchettes erster veröffentlichter Polar Laissez bronzer les cadavres! – der die brutale Geschichte eines cleveren Raubüberfalls erzählt – war noch eine Stilübung, die er zusammen mit dem Regisseur Jean-Pierre Bastid verfasste, um Marcel Duhamel von seinem „kommerziellen Wert“ für die Série Noire zu überzeugen. Dies wurde verlangt, weil der eigentlich für die SN geschriebene andere Stoff für heftige Diskussionen innerhalb der Redaktion gesorgt hatte und seine Veröffentlichung – wie oben in der Tagebuchnotiz angeführt – von vielen Korrekturen abhängig gemacht wurde.

Lasst die Kadaver bräunen erschien im Jahre 1971 als SN-Nr. 1394.

Manchettes wesentlich bedeutenderes, man kann sogar behaupten, sein erstes bahnbrechendes Werk wurde dann doch im selben Jahr als SN-Nr. 1407 herausgebracht:

L’AFFAIRE N’GUSTRO

Wer war Henri Butron, dieser kleine Ganove und große Bastard, der mit der extremen Rechten sympathisierte und nach Geld und Ruhm strebte? Wie konnte dieser Mann – den heute alle, die das Pech hatten, ihm zu begegnen, in den Dreck ziehen und beschimpfen – mit dem Dissidenten Dieudonne N’Gustro, diesem in Paris entführten und hingerichteten Dritte-Welt-Führer in Verbindung gebracht werden? Wer sich in anderer Leute Verschwörungen einmischt, bringt sich selbst in Gefahr. Butron bezahlte mit seinem Leben. Er hinterließ jedoch eine Aufnahme, die seinen Werdegang, seine Vergehen und seine Verbindung zur N’Gustro-Affäre beschreibt. (Gallimard Klappentext)

Die Affäre N’Gustro thematisiert die durch den marokkanischen Innenminister Mohammed Oufkir veranlasste Entführung und Ermordung des Oppositionspolitikers Al Medhi Ben Barka am 29./30. Oktober 1965 in Paris und arbeitet in fiktionaler Form deren Umstände und Hintergründe auf.

Der linke Politiker Ben Barka war nicht nur ein Widersacher von König Hassan II und musste dafür ins Exil gehen, sondern auch ein Vorkämpfer der 1966 in Havanna ins Leben gerufenen Trikontinentale. Eine Organisation mit dem Ziel, die sogenannte Dritte Welt gegen die ehemaligen Kolonialherren und wirtschaftlichen Ausbeuter zu vereinen. Die Ermordung Ben Barkas wurde mutmaßlich mithilfe der französischen, amerikanischen und israelischen Geheimdienste unter Involvierung der französischen Unterwelt durchgeführt. Allen war daran gelegen, den lästigen „Handlungsreisenden in Sachen Revolution“ zu beseitigen. Seine Ermordung steht deshalb in demselben politischen Kontext – Kalter Krieg, Anti-Kommunismus, Imperialismus = Kampf um die Vorherrschaft bei der Ausbeutung der Ressourcen der ehemaligen Kolonien –, wie die Ermordung von Patrice Lumumba, Malcolm X, Martin Luther King und Che Guevara. Auch wenn in jedem Einzelfall unterschiedliche Partikularinteressen den Ausschlag gaben.

2020 Edition

In seinem Roman verlagert Manchette die Handlung in das fiktive Land Zimbabwin (nicht zu verwechseln mit dem heutigen Zimbabwe, welches zu der Zeit noch Rhodesien hieß und erst 1980 seinen jetzigen Namen annahm), hält sich aber genau an den bekannt gewordenen Verlauf der Ereignisse. Die Figur seines Erzählers Henry Butron beruht auf dem Journalisten, Filmemacher und Geheimdienst-Spitzel Georges Fignon. Der damalige Polizeipräfekt Maurice Papon musste wegen der Verstrickung der Polizei in die Affäre zurücktreten.

(Randnotiz: Der Schweinepriester Papon zeichnete neben anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch für das Massaker an den Algeriern in Paris 1961 verantwortlich, bei dem 200 Menschen starben und deren Leichen teilweise in die Seine geworfen wurden. Didier Daeninckx thematisierte dies in seinem 1983 erschienen Roman Meurtres pour mémoire.)

Manchettes Schilderung von politischen Führungsfiguren als Mörder prägte den Polar post-soixante-huitard, den Polar nach 1968. „Die Mörder sind die Innenminister und die Polizeichefs!“, notierte der spanisch-mexikanische Autor Pablo Ignacio Taiblo II. (Diese Konstellation finden wir später in auch in Nada wieder.) Spitzel Fignon tönte in einer Pariser Zeitung, er hätte angeblich gesehen, wie Ben Barka von Oufkir ermordet wurde. Seine eigene Leiche fand man daraufhin wenige Tage später. Die Polizei stufte das plötzliche Ableben als Selbstmord ein.

Handwerklich fällt der Roman durch Eigenwilligkeiten auf, die situationistische und modernistische Züge tragen. So spart Manchette sich bei seinem zweiten SN-Polar gleich mal die Kapitelnummern und stellt der Story reportageartig Aussagen verschiedener Personen voran, die Butron kannten, jetzt über ihn herziehen und/oder ihre kleinbourgeoisen Geisteshaltungen bezeugen. Die eigentliche Handlung wird in zwei parallelen Strängen erzählt: 1) Ich-Erzähler (und Arschloch) Henry Bruton schildert posthum via Tonband sein Leben und wie er in die N’Gustro-Affäre hineingeriet; und 2) in Dritter Person aus der Perspektive des Maréchal Oufiri (wie Mohammed Oufkir im Roman heißt), der sich Butrons „Beichte“ in der Nacht anhört, ehe er die „Angelegenheit N’Gustro persönlich aus der Welt schafft“. Sprachlich unterscheiden sich die Stränge ebenso: Butrons Duktus und Weltsicht verraten den Einfluss von Celin, die Kapitel in Dritter Person sind von Hammett inspiriert und besitzen in ihrer absurden Monströsität eine entlarvende Komik.

Wie im Drehbuchgeschäft üblich, entwickelte Manchette viele Stoffe parallel. Die Mehrzahl seiner Romane entstammten Überlegungen für Filmprojekte, wenn sie nicht unmittelbar aus fertigen Drehbüchern hervorgingen. L’Affaire N’Gustro entstand ursprünglich in der Zusammenarbeit mit Jean-Pierre Bastid als Kinoprojekt, zu dem Manchette auch ein Treatment verfasste, dann sich aber den Roman komplett aneignete und ihn als „c’est mes tripes – absolut mein Ding“ bezeichnete. Bastid war davon nicht begeistert.

(Randnotiz: Bastids Versuche, den Film mit den Autoren Ben Barzman und Basilio Franchina auf die Beine zu stellen, scheiterten. 1972 verfilmte Yves Boisset die Story ausgehend von Barzmann und Franchinas Originaldrehbuch als Das Attentat. Es lohnt sich, den Film im Anschluss an die Lektüre von Manchettes Roman anzusehen.)

Die Überarbeitung von L’Affaire N’Gustro für die SN fiel mit ersten Arbeiten an Nada zusammen. Interessanterweise verbindet beide Stoffe auf der Handlungsebene die Figur eines Antagonisten: Kommissar Goémond. Dieser Fascho verkörpert als Repräsentant des Staates den Typus des willfährigen Befehlsempfängers; ein widerlicher Scherge, der in seinem sadistischen Eifer, die „Staatsfeinde“ zu vernichten, mit großer Leidenschaft mörderisch über die Stränge schlägt.

1967 verurteilte die französische Justiz Mohammed Oufkir als Hauptverantwortlichen für Ben Barkas Ermordung in Abwesenheit zu lebenslanger Haft. Oufkir selbst wurde 1972 wegen seiner Verstrickung in einen Coup gegen König Hassan II getötet.

(Randnotiz: Einiges an dem Verbrechen gegen Ben Barka, inklusive der spurlosen Beseitigung der Leiche, erinnert an die Ermordung des saudi-arabischen Journalisten und Regimekritikers Jamal Kashoggi 2018 in Istanbul durch den saudischen Geheimdienst auf Geheiß des Kronprinzen, aber de facto Herrschers des Königreiches, Mohammed bin Salman. Kashoggi bedrohte das feudale System zwar nicht annähernd wie Ben Barka, er war dem starken Mann in Riad dennoch lästig, prangerte er doch in der Washington Post und anderen Medien die Verbrechen und Lügen des „humanen Modernisierers“ an.)

Das oben abgebildete Cover der 2020 Gallimard-Edition „ziert“ der ehemalige ugandische Präsident Idi Amin Dada. Den fiktiven schwarzen Freiheitskämpfer Dieudonne N’Gustro durch einen veritablen Menschenschlächter zu repräsentieren, verrät, wie sehr Ignoranz und Geschichtslosigkeit auch in Frankreich grassieren.

L’Affair N’Gustro beeinflusste im Nachgang eine ganze Reihe Kollegen wie den vorgenannten Didier Daeninckx, dazu Jean-Francois Vilar, Jean-Bernard Pouy, Thierry Jonquet und Frédéric H. Fajardie, und in jüngerer Zeit auch Autoren wie Dominique Manotti und DAO.

SCHLAGLICHTER SN HISTORIE II

1977 übernahm Robert Soulat die Leitung der Serie. Die o.g. Autoren und andere, die unter seiner Ägide und im „Fahrwasser“ von Manchette arbeiteten, produzierten Werke, die mit dem Label „Néo-Polar“ etikettiert wurden. Der von Manchette erfundene Begriff, den er gemäß seines situationistischen Blicks auf die vorherrschende materialistische Gesellschaftsordnung als Ironisierung verstand (wie Neo-Seife, Neo-Weißbrot, Neo-Kondome), wurde prompt zu einem ernsthaften Gütesiegel erhoben und zur Vermarktung der „politisch- und sozialkritischen“ Romane der SN benutzt.

Als „Gründervater“ des Néo-Polar bekam der Spötter einen Ehrenplatz in der Geschichte des französischen Kriminalromans. Was Manchette nicht davon abhielt, mit den sich auf ihn berufenden, literarischen Kollegen wenn nötig hart ins Gericht zugehen. So kommentierte er in den Chroniques:

Bei Fajardie, der bei Fayard/Noir SNIPER veröffentlicht, ist es leider unmöglich geworden, noch mehr Geduld aufzubringen. Der Autor bleibt dem Populismus stalinistisch-klebrig treu, weil er sich selbst immerzu treu bleibt. (Diesmal wird der Held, ein Elitekiller von kleinen Straßenkids und einem kominternistischen alten Mann, dem „Père Aimable“ – lieber Vater! – umgeben und zudem von einer „ungewöhnlichen, großen, dünnen und üppigen Frau“ mit „einem Gesicht von brutaler Schönheit und lüsternen Lippen“.) Drauf geschissen! Lüsterne Lippen, mich gelüstet nach einem Cognac. (…) Ich weiß, dass es bei der Kritik von Kollegen üblich ist, sich auf eine Apologie zu beschränken und über das zu schweigen, was einem missfällt (es sei denn, es handelt sich um Faschisten, dann darf man draufhauen). Als erschwerender Umstand wird mir außerdem mitgeteilt, dass Fajardie irgendwo einen Text mit dem Titel Défense de Manchette – Verteidigung von Manchette – veröffentlicht hat. Aber ich frage mich: Gegen was oder wen? Welche formidable, subtile und bewaffnete Bande bedrohte mich denn? Wäre ich ein Arschloch, wenn ich sagen würde, dass Fajardie saumäßig schreibt? Werde ich die Liebe zur Sprache über die Kameradschaft mit den Berufskollegen stellen? Aber ja!

Der politische „Néo-Polar“ wollte die Leser herausfordern und oftmals auch verunsichern. Seine Autoren bildeten aber kein ideologisches Kollektiv. Obwohl ihre überwiegende Mehrheit sich als links bezeichnete, was ein in sich breites Spektrum umfasste, stand z.B der zunächst sehr erfolgreiche ADG extrem rechts. Seine Romane irritieren ebenso durch ihren beiläufigen Rassismus wie durch seine genauen sozialen Beobachtungen. Sämtliche Autoren hatten jedoch zwei Dinge gemein, die Infragestellung der patriarchalischen oder paternalistischen französischen Autoritäten und ein zwiespältiges Verhältnis zur kulturellen, wirtschaftlichen und militärischen Dominanz der USA.

NADA

1995 Edition

Der nächste Paukenschlag: Dieser Roman spielt im Paris der frühen 1970er Jahre, in den frustrierenden Nachwehen des Mai 1968, als Studenten und Gewerkschaften massenhaft auf die Straße gingen, um institutionelle Veränderungen zu fordern. Er erzählt die Geschichte einer Gruppe Linker, eben jener Gruppe Nada, die eine Revolution anzetteln wollen, indem sie den amerikanischen Botschafter in Frankreich entführen.

Manchette nahm sich des Themas Entführungen von Politiker an, bevor dies von der RAF oder den Roten Brigaden als Taktik zur Erreichung ihrer Ziele en vogue wurde. (Die spektakulären Entführungen von Peter Lorenz und Hanns-Martin Schleyer durch die RAF fanden erst 1975 bzw. 1977 statt.)

So bunt wie der Anarchohaufen zusammengewürfelt ist, so unterschiedlich sind auch ihre einzelnen Motive: Einige erhoffen sich, das System zu stürzen; andere wollen nur das Lösegeld; wieder andere wissen nicht, was sie wirklich wollen; und einer weiß gar, dass sie alle draufgehen werden (macht er nur mit, um nicht alleine zu sterben?).

Der Theoretiker, ein Philosophielehrer, der das Manifest – das mit keinem Wort dem Leser vorgestellt wird – zur Rechtfertigung der Entführung verfasst hat, steigt noch vor der eigentlichen Aktion aus ideologischen Gründen aus. Die Reaktion der französischen Linken – von Ablehnung bis Hass – und die des autoritären Staates – eine willkommene Gelegenheit, um mit den Staatsfeinden kurzen Prozeß zu machen – wird minutiös geschildert.

Große Tragödie und absurde Komödie liegen bei Nada ganz dicht beieinander. Mehr darüber beim nächsten Mal.

Weiter nächste Woche mit Teil 2, darin: Nada und seine Rezeption, Disput mit Ernest Mandel, Vorwort zur spanischen Erstausgabe 1987, Manchettes Formel für einen Roman in der Série Noire . . .

LINK Manchette und der Roman noir . . .

LINK Manchette-Interview Teil 1 . . .

(Obiges TITELFOTO: Série-Noire-Bücher von JJ Georges, Lizenz: creative commons)

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