Nach den Schüssen auf dem alten Rode-Werksgelände werden die involvierten Polizeibeamten befragt. Die Aussagen von Sina und Benz werfen mehr Fragen auf, als dass sie Antworten geben …
Das ehemalige Werksgelände war von einem mannshohen, an vielen Stellen löchrigen Maschendrahtzaun umschlossen. Große gelbe Warnschilder deklamierten ,Zutritt verboten‘. Niemanden scherte es. Obdachlose und Drogensüchtige fanden auf dem Gelände Unterschlupf und tagsüber trieben sich dort auch viele Kinder und Jugendliche herum.
Tatort: ehemaliges Rodewerksgelände, Rodestraße 1 – 9
Tatzeit: 12. September, ca. 15:12 Uhr
Aussagen: PK Sina Sebaldt, PK Udo Benz
Prokoll: HK Witte, Revier Zepter
Aussage PK Benz: „PK Sebaldt und ich erreichten gegen 15:10 Uhr den Tatort. Nachdem wir unser Fahrzeug verlassen hatten, vernahmen wir schwache Hilferufe einer Frau. Wir folgten der Richtung aus der die Stimme kam. Wir hörten deutlich die Worte ,Nein!‘ und ,Hilfe!‘. Kurz darauf sahen wir eine Person durch die Büsche davonlaufen. Ich übernahm die Verfolgung.“
Aussage PK Sebaldt: „Ich eilte weiter in die Richtung, aus der die weibliche Stimme kam. Auswuchernder Büsche und niedrige Bäume versperrten mir die Sicht. Eine Hand so schützend vor Gesicht haltend, drängte ich voran. Die Rufe der Frau waren meine einzige Orientierung.
,Bitte, nein. Bitte …‘ hörte ich die Frauenstimme ganz in der Nähe. Ich blieb stehen, zog meine Pistole und lauschte. Einige Schritte weiter endete das Buschwerk. Ich erreichte eine große Betonplatte, die Kellerdecke eines ehemaligen Gebäudes. Auf der in vielleicht zehn Metern Entfernung eine junge Frau lag und wild um sich trat.
Außer ihr war niemand zu sehen. Ich lief hinüber, als zwei junge Männer erschienen. Einer hatte einen Baseballschläger, der andere warf einen faustgroßen Stein nach mir. Verfehlte aber knapp. Der Mann mit dem Baseballschläger marschierte direkt auf mich zu. Ich gab einen Warnschuss in die Luft ab.“
PK Benz: „Als ich den Schuss hörte, rief ich laut nach meiner Kollegin, erhielt aber keine Antwort. Die Richtung aus der der Schuss kam, war von meiner Position aus schwer auszumachen. Das Gelände ist von hohem Gras, Büschen und jungen Bäumen überwuchert.“
PK Sebaldt: „Der Mann mit dem Baseballschläger blieb stehen. Ich richtete meine Dienstwaffe auf ihn und rief vorschriftsmäßig, er solle den Baseballschläger auf den Boden legen und die Hände heben. Die beiden Männer rannten weg. Auch meiner zweiten Aufforderung, stehenzubleiben, wurde nicht Folge geleistet.“
Sina hetzte den jungen Angreifern nach, die schnell zwischen den Büschen aus Sicht gerieten. Immer wieder wurde sie von kleinen Steinen getroffen. Die Angreifer waren nicht zu sehen. Sie hörte nur ihre lachenden und grölenden Stimmen. Sina blieb stehen, die Stimmen schienen aus verschiedenen Richtungen zu kommen. Sie drehte sich im Kreis und versuchte die Rufer zu lokalisieren. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie etwas. Sie fuhr herum. Ein Stein traf sie mit Wucht am Bein. Sina stöhnte auf, verbiss sich den Schmerz, humpelte voran in die Richtung des Werfers, ihr angebrochenes Jochbein begann stark zu pochen. Den Griff der Pistole mit beiden Händen fassend schwenkte sie den Lauf bei jedem Geräusche hin und her. Wieder spürte sie etwas, duckte sich reflexartig ab, ein faustgroßer Stein zischte knapp an ihrem Kopf vorbei, zerfetzte die Blätter eines nahen Busches.
PK Sebaldt: „Ich rief erneut ,stehenbleiben‘. Dann sah ich einen der Angreifer nur wenige Meter vor mir in den Büschen. Er hielt einen länglichen Gegenstand in der Hand. Ich rief, er solle seine Waffe fallen lassen. Doch der Angreifer machte stattdessen eine Bewegung auf mich zu. Ich drückte ab.“
Die Wucht des Treffers warf den Mann von den Beinen.
PK Benz: „Ich hörte den zweiten Schuss, er kam aus östlicher Richtung. Ich bewegte mich sofort in entsprechende Richtung und rief erneut nach meiner Kollegin. Dieses Mal erhielt ich über Funk die Antwort: ,Ich bin auf der Rückseite des alten Kesselhauses. Eine Person am Boden‘.“
PK Sebaldt: „Die angeschossene Person bewegte sich stöhnend auf der Erde. Ordnungsgemäß näherte ich mich ihr mit gezogener Dienstwaffe …“
Zwischen den Farnen und Brennnesseln lag aber kein Mann, sondern ein hochgewachsener, höchstens 13 Jahre alter Junge. Seine Brust war blutverschmiert. Er zitterte am ganzen Körper. Aus glasigen Augen sah er zu Sina hoch, reckte ihr eine Hand entgegen. Darin hielt er einen eingerollten Panini-Bildsammelband. Verstört steckte Sina ihre Pistole weg, verfehlte aber das Holster, die Waffe landete mit einem dumpfen Geräusch auf der Erde. Dann tastete sie hektisch nach dem Funkgerät, versuchte einen Notruf abzusetzen. In diesem Moment brach jemand hinter ihr durchs Gebüsch. Sina griff nach ihrer P 99, aber die steckte nicht in ihrem Holster. Eilig bückte sie sich, suchend rasten ihre Blicke über den Erdboden. Wo war ihre Waffe?
PK Benz: „PK Sebaldt kniete neben einem angeschossenen Jungen und tastet auf der Erde nach ihrer Dienstwaffe. Ich setzte sofort einen Notruf ab. PK Sebaldt sagte, ein verletztes Mädchen läge auf der Betonplatte gegenüber dem Kesselhaus. Ich habe ihr dasselbe geantwortet, was ich auch jetzt zu Protokoll gebe: ,Ich komme gerade von dort, ich habe kein Mädchen gesehen.‘“