Im Herbst 2005 saß ich in der Lobby eines Hotels in der Kölner Innenstadt und wartete auf den Producer einer TV-Serie, um eine Drehortbegehung vorzunehmen, Ablauf und Dialoge einer entscheidenden Szene sollten der Location angepasst werden.
Auf dem Weg zum Hotel hatte ich mein soeben eingetroffenes deutsches Exemplar der CHRONIQUES von Jean-Patrick Manchette (DistelLiteraturVerlag, 2005) abgeholt und plante die Wartezeit – Fernsehfuzzis sind notorisch unpünktlich – mit Lesen totzuschlagen. In den folgenden vielleicht zwanzig Minuten wurde nur eines totgeschlagen, mein letzter Zweifel an der „heiligen Mission eines Krimischreibers“ …
„Die Herrschaft des Bösen ist gesellschaftlich und politisch. Die gesellschaftliche und politische Macht wird von Halunken und Gaunern ausgeübt. Genauer gesagt, skrupellose Kapitalisten, verbündet oder identisch mit zu Organisationen zusammengeschlossenen Gangstern, haben die Politiker, die Journalisten und die Polizei in ihrem Sold. Und zwar in dem gesamten Gebiet, in dem diese auf Clans verteilten Leute sich untereinander mit allen Mitteln bekämpfen, um sich Märkte und Profite zu sichern.“
Salopp formuliert, die Welt ist korrupt, alle sind gekauft und wer bezahlt, der bestimmt. Diese Aussage bezieht sich auf den Roman noir der 1920er und 30er Jahre. Sie trifft exakt auf unsere Zeit zu. Vielleicht heute sogar mehr denn je, wie wir überall um uns herum beobachten können, weil es offener und schamloser geschieht als früher, weil es zu vielen zu selbstverständlich erscheint und wir alle mehr oder weniger zu Komplizen geworden sind.
Um sich Märkte und Profite zu sichern . . . dazu habe ich mich im Blog ausführlich geäußert. Stichworte: Die große Erleuchte 1-6, Virengeil in Zombieland, Einsichten für Isolierasseln, etc. . . .
Damals dachte ich nur: Mann! Mann! Mann!
Ich hatte gerade ein Drehbuch über einen „guten Bullen und einen guten Gangster“ fabriziert, welches Heldentum und Edelmut auf beiden Seiten naturgemäß miteinander in Konflikt brachte – ein Stoff, bei dem die Fiction-Chefin des Senders angeblich vor Rührung weinen musste – und jetzt das. Wurde in dem Skript die gesellschaftliche und politische Macht angeprangert? Hmmm … auf der Handlungsebene weniger: Der Bulle war gut, der Gangster auch, die unschuldige Liebe des Gangsters zu einem gutbürgerlichen Mädchen blieb unerfüllt, sein Tod war vorprogrammiert. Sterben eröffnete dem Gangster den einzig möglichen Ausweg aus dem Schlamassel – n.B. auch meiner Selbstachtung. Sie würde niemals auf ihn warten, während er seine Zeit im Knast abbüßte, und er konnte und wollte solch ein Opfer nicht von ihr verlangen. Eine griechische Tragödie im Gewand einer Actionstory.
Wo aber war hier die Herrschaft des Bösen?
Sie hatte sich in den Überbau verkrochen – ein Begriff, fürchte ich, den heute kaum einer mehr kennt. Das System ließ weder den Liebenden, noch der Freundschaft zwischen Gangster und Bulle eine Chance. Halbwegs passabel, rechtfertigte ich mich vor mir selber. Nur, würden die Zuschauer diese sublime Botschaft erkennen? Wollten sie diese überhaupt erkennen? Vor allem war es von Belang? Wenn ja, für wen? Für den Autor?
„Können wir?“, schreckte mich die Stimme des Producer hoch.
Auf der Fahrt in seinem 6er BMW-Coupe, der Drehort war eine riesige Logistikhalle in einem Vorort, kreisten mir die ersten 16 Seiten der CHRONIQUES im Schädel herum. Sie führten mich von „Statt eines Vorworts“, ein Interview mit Manchette über seinen schriftstellerischen Werdegang, zu „Fünf Anmerkungen zu meinem Broterwerb“, aus dessen zweiter Anmerkung das oben angeführte Zitat stammt. Während ich mit halben Ohr dem Producer zuhörte, wie er mich auf die Wünsche des Regisseurs vorbereitete – der große Inszeniermeister würde anschließend noch persönlich seinen Senf absondern –, erkannte ich, in Biederland schimmert die Herrschaft des Bösen hinter „der Realität des deutschen Fernsehens“ hervor. Wie sonst konnte es sein, dass wir unendlich viele Krimis runterschrubbten, deren einziger Wert die Quote darstellte und dessen Inhalt nur auf seinen emotionalen Effekt hin betrachtet wurde? Was berührte, war gut. Warum es berührte, war unerheblich. Trotz gegenteiliger Beteuerung. Denken interessierte nicht, Wahrheit störte nur, man musste sie geschickt verstecken. Das System von innen unterwandern, wie Manchette es einige Zeit lang ausdrückte. Die offizielle Ansage der Produktion lautete: Schreib was dem Zuschauer gefällt, verbunden mit der subtilen Drohung, wir alle müssen schließlich unsere Miete zahlen.
In Wirklichkeit hieß das, schreib gefälligst, was der Redaktion gefällt, und anschließend vor allem, was den Regisseuren gefällt, denn die durften sich ihre Stoffe aussuchen.
Jean-Patrick Manchette war das genaue Gegenteil. Er wurde ausgesucht, trotz seiner Haltung, oder gerade deswegen. Beneidenswert.
Mit 24 Jahren notierte er in seinem Tagebuch:
Schreib über die Seelen,
die Ideologien,
übers Diskutieren,
die Eltern,
die Impulse,
die Liebschaften,
die Beziehungen,
die Einsamkeit,
die Abschnitte,
noch einmal über die Ideologie und darüber, was folgt.
Es ist immer noch Scheiße,
aber wir wollen jetzt in verschiedenen Farben scheißen.
Tagebuch, 1967 (aus Journal, Gallimard, 2008)
Mit 50 Jahren sagte er in einem seiner letzten Interviews:
Die Charaktere durchleben, sagen wir, Übles, bekommen Risse, marschieren manchmal in die Schlacht. Aber das sind Banalitäten, wir sollten weitergehen, theoretisieren. Trotzdem hätte ich nie daran gedacht, etwas anderes zu schreiben. Psychologie nervt mich, der Tod muss Teil der Geschichte sein. Der Tod, die Toten. Es gibt nur die Gewalt, die interessant erscheint, nicht dass ich ich selbst gewalttätig bin … Aber sie ist da. Wir müssen versuchen, über das Zerfallen der Welt zu sprechen, in der wir leben. Ich werde ihren Zusammenbruch ohne jegliches Vergnügen miterleben. Ich träume von einem Roman, in dem ich etwa fünfzig Leichen ansammeln würde, eine Burleske, aber schwarz, sehr schwarz.
(Le Jour, Juli-August 1993, Interview mit Yannick Bourg)
In dem Tagebuch hat ein junger Mann Überlegungen vor seinem literarischen Aufbruch festgehalten, aus dem, neben dem thematischen Terrain, bereits ein gerütteltes Maß an Abscheu vor dem System klar wird.
Wobei mich sein Auftakt, schreib über die Seelen, sehr berührt. Das drückt eine besondere Empfindsamkeit aus. Wie schreibt man über Seelen in diesen seelenlosen Zeiten, in denen alles Ware ist und entsprechend in Geld bemessen wird? (Ich weiß, hier wiederhole ich mich ständig.)
26 Jahre später ist sein Fokus angesichts der Zerstörung der Welt auf die Gewalt gerichtet, die diese Zerstörung auslöst und die zugleich mir ihr einhergeht und die nur noch mit Absurdität, der Burleske, erträglich ist. (Beide Übersetzungen der Zitate aus dem Französischen von mir.)
In seinen CHRONIQUES verweist Manchette immer wieder auf Flaubert und Huysmans, betont, dass angesichts der realen Barbarei unserer Welt die Literatur keine falsche Romantik mehr verkraftet. Darum auch die große Liebe zu Dashiell Hammett, jenen Autor des hard boiled Romans, dessen reduzierte, verdichtete Sprache Sentimentalitäten keinen Platz bietet. Hammetts ungeschönter, klarer Blick auf die Welt der 1920er Jahre – er schrieb im Wesentlichen von 1922 bis 1934, den Jahren der Prohibition, in die der Aufstieg des Organisierten Verbrechens fiel, und alle Erscheinungsformen des Systems deutlich sichtbar machte – ist heute besonders vonnöten.
Für Manchette war Dashiell Hammett Bezugspunkt und Messlatte zugleich.
Mir wiederum wurde durch Manchette die wahre Bedeutung von Literatur klar: Zu versuchen, die Welt zu entschlüsseln, und diese Entschlüsselung anderen zugänglich zu machen. Zusätzlich schärfte er mein politisches Bewusstsein, kanalisierte rudimentäre Gedanken und zwang mich förmlich, stets erneut über die zentralen Fragen nachzudenken und sie thematisch zu adressieren. Manchettes Chroniques sind für mich nach wie vor ein unglaublicher Schatz und darum wieder und wieder lesenswert.
Ich vermisse seinen Blick auf die Welt, seine Kommentare zu unserem Dilemma – und vor allem, wie er dieser fürchterlichen Gegenwart mit der Fiktion entgegentreten würde. Denn getreu seinen Dikta, je schlechter die Zeiten, desto besser die Noir, und, so lange die Welt ist, wie sie ist, hat der Roman noir nichts von seiner Schärfe verloren, leben in wir für einen Noir-Schreiber „schrecklich phantastischen Zeiten“. (Na, wenn das jetzt man nicht zu sehr nach Mao klingt: Es herrscht totales Chaos unter dem Himmel, die Situation ist großartig.)
Die Besten gehen immer viel zu früh. Ihre Werke haben ungebrochen Bestand.
Jean-Patrick Manchettes Werk muss man sehr genau lesen, es ist tiefgründig und mitreißend, voll absurdem Humor und brandaktuell.
Mehr darüber in folgenden Artikeln: