GEGEN DEN ABSTIEG – Auszug

April 1986, in der fernen Ukraine explodierte ein Atomkraftwerk und ganz Dortmund zitterte um den Klassenerhalt. Story aus einer beinahe heimligen Zeit, als mit Augen schließen und Jodtabletten schlucken der Radioaktivität getrotzt und Becquerel nicht für eine Diätmagarine gehalten wurde . . .

Der Tresen im Arschleder, einer Kumpel- und Stahlwerkerkneipe in der laut Herbert Wehner „Herzkammer der Sozialdemokratie“, war mit schwarz-gelben BVB-Fähnchen dekoriert. Heute war Samstag, der 26. April 1986 und zugleich der 34. und letzte Spieltag der Fußballbundesliga Saison 85/86. Die Borussia spielte die schlechteste Rückrunde seit dem Wiederaufstieg neun Jahre zuvor. In der rappelvollen Bude standen die BVB-Fans dicht an dicht. Walter, Jürgen, Günter und Opa Kurt hatten Plätze am Tresen ergattert. Günter hielt noch einen Hocker frei und blickte sich ungeduldig um.

Aus den Lautsprechern ertönte die Auftaktmelodie zu „Sport und Musik“ auf WDR 2 mit Kurt Brumme.

Jürgen reichte Walter einen Brief: „Das ist ein Pfändungsbescheid. Betreibt alles die Roswitha ihr Neuer.“

„Leise da vorn“, sagte eine Stimme.

Walter überflog kurz das Papier. „Ich sach doch, hättest die Roswitha richtig erziehen müssen.“

„Nix ist mehr wie früher“, klagte Jürgen.

Walter reichte ihm den Bescheid zurück. „Mitte Borussia schon gar nicht.“

„Mensch leiser!“ Die Stimme klang genervt.

Walter und Günter stießen teilnahmsvoll mit Jürgen an. Sie leerten ihre Pilsgläser. Nachschub musste her.

„Du auch, Kurt?“, fragte Walter.

Opa Kurt trug Bergmanns Ausgehkleidung: Stoffhose, kurzärmliges Hemd, Jacket, und rauchte Overstolz.

„Soll er vielleicht zukucken?“, fragte Günter.

Der Kleine muckte auf. Kurt lächelte. Jürgen und Walter mussten auch grinsen.

Aus dem Radio erklang die Stimme des Moderators: „Der BVB muss in Hannover ran. ‘96 ist Schlusslicht und bereits abgestiegen, liebe Fußballfreunde …

Demonstrativ hoben die versammelten Fans ihre Pilsgläser zum Gruß.

Walter zeigte vier Finger Richtung Wirt und rief: „Lass mal die Luft aus den Gläsern.“

„Haltet endlich die Klappe!“, brüllte einer.

„Du kriechst gleich wat an ’n Rand!“, brüllte Walter zurück. Opa Kurt sah ihn streng von der Seite an. „Is doch wahr.“

Aus dem Radio war zu hören: „Für Dortmund geht es um den Klassenerhalt. Der BVB muss unbedingt gewinnen und außer den zwei Punkten noch eine katastrophale Torbilanz aufholen: zum 1. FC Köln 4 Tore, zu Eintracht Frankfurt 7 Tore.

Opa Kurt zündete sich eine neue Overstolz an und bekam prompt einen schlimmen Hustenanfall.

Günter war sogleich besorgt. „Mensch, Opa, du hustest dir noch ‘n Wolf.“

Kurt kriegte sich wieder ein und grinste. „Staublunge, 60 Zigaretten am Tach, wat erwarteste da, Junge?“

„Tach, die Herren“, sagte eine Stimme. Jungstar Heinzchen, genannt die Viper, weil er vor dem Tor schlangengleich zubiss, wenn er mal nicht fußkrank war, erschien am Tresen.

„Na endlich. War gar nicht leicht, dir ’n Platz freizuhalten, Heinzchen“, sagte Günter und strahlte.

„Wat willste denn. Hat doch geklappt.“

Jürgen lehnte sich zu Walter herüber. „Vier Tore, hoffentlich klappt dat.“

„Vergiss et. Dat is die gleiche Abstiegsscheiße wie ’72.“

„Komm, Walter, die Sprüche hören wir jetzt schon seit der Hinrunde“, sagte Opa Kurt.

Jürgen, Günter und Heinzchen lachten laut.

Walter raunzte die Viper an: „Sieh du bloß zu, dat du deine Füße überhaupt mal auffem Platz krist.“

„Noch fünf Minuten bis zum Anpfiff, liebe Fußballfreunde“, verkündete der Moderator über die Lautsprecher.

Strahlende Zeiten – Urlaubsfoto aus der Ukraine

Just in dem Moment wurden die BVB-Fans auseinandergeschoben, zwei bullige Typen trieben eine Schneise bis zum Tresen: Wumme und Kelle, die Geldeintreiber und Leibgarde von Wetten-Dieter. Zwei Eisenfresser von der ganz harten Sorte, im typischen Pumper-Outfit: Baggy-Pants, knallenge T-Shirts, dazu eine kleine Bauchtasche um den Blähwanst geschnallt. Auf ihren T-Shirts präsentierte ein Gorilla in Shorts und Muscle-Shirt seine dicken Arme, darunter stand selbst für schwer Sehgeschädigte lesbar: DROGEN LOHNEN!

Den beiden Hirnakrobaten folgte ihr Boss Wetten-Dieter. In seinem grellen Anzug mit den breiten Schulterpolstern und den dünnsohligen Schuhen repräsentierte er das klassische Outfit eines geschmacksverirrten Kriminellen im Zeitgeist dieses geschmacksverirrten Jahrzehnts.

Wetten-Dieter, auch WD genannt, wartete einen Moment, bis Walter, Jürgen und Günter von ihren Hockern geräumt waren.

Walter begann zu protestierten, Jürgen forderte ihn auf, lieber still zu sein. Günter sagte nix. Heinzchen und Opa Kurt, die jeweils ganz außen saßen hatten Glück und durften sitzen bleiben.

Jetzt lehnte Wetten-Dieter sich schwerfällig an den Tresen und holte ein Notizbuch und einen Montblanc-Füllfederhalter hervor. Der Wirt drehte das Radio leise. Stille. Alle inspizierten intensiv ihre Pilsgläser oder zählten akribisch die Härchen auf ihren Handrücken, denn jeder wusste, was nun kam: Zwangswetten.

Demonstrativ schaute der Wettkönig auf seine geschmacklose Breitling-Armbanduhr: „Höchste Zeit für eure letzten Einsätze, Freunde des runden Leders. Mindestsumme fünfzig Mark.“

„Dat is mein Biergeld für die ganze Woche“, entfuhr es Walter und erntete lautes Gelächter.

Wetten-Dieter schrieb auf. „Fünfzig auf Erreichen eines direkten Nichtabstiegplatzes. Danke, Walter.“

„Und du hältst dagegen?“ Walter stieg die Zornesröte ins Gesicht.

Das Gelächter im Saal verstummte.

„Die Bank hält immer dagegen“, sagte Wetten-Dieter mit einem Blick ins Rund, „dat Geld passend bereithalten. Gilt für euch alle. Wumme und Kelle hier rechnen zwar mit dem Schlimmsten, können aber nicht zählen.“

Jetzt lachte keiner mehr – außer Wetten-Dieter. Er klang wie eine meckernde Ziege.

„Ist doch klar, dat hier jeder auf den BVB wettet, woll“, versuchte Walter, die anderen Wettopfer in spe auf seine Seite zu ziehen.

„Dat gehört sich ja auch so“, stellte Wetten-Dieter klar.

„Wat bist du nur für einen?“, sagte Walter zu Wetten-Dieter, und an alle anderen gerichtet, „Wo bleibt eure Solidarität?“

BVB-Sturm im euphorischen Torjubel

Im Saal herrschte eine betretene Stille. Opa Kurt zog an seiner Overstolz und sah sich dabei um. Von den anwesenden Heinis war keine Unterstützung zu erwarten.

„Walter, erhöht auf Hundert“, verkündete Wetten-Dieter.

„Dat wollen wir aber mal sehen“, sagte Walter trotzig.

„Hör lieber auf“, flüsterte Jürgen ihm zu.

„Jürgen auch für Hundert. Jungs, ihr tippt aber voll auf Nummer sicher. Wollt die Bank arm machen, woll?“

„Ich bin pleite, WD“, sagte Jürgen, „dat kann ich mir nicht leisten.“

„Bei Jürgen haben sie gepfändet“, ergänzte Günter.

„Mensch, da haste aber Glück, dass Walter für dich geradesteht“, Wetter-Dieter grinste, sagte an Günter gewandt, „und für dich auch, Kleiner“, und zu Walter, „Summasumarum, 300 Ocken. Hoffe, du hastet passend.“

„Fass ma’ nackten Kumpel in die Tasche.“

„Bei denen fass ich immer woanders hin. Die Ocken auf ‘n Tresen, Walter, aber zügig.“

Jürgen und Walter schauten sich an. Günter blickte hilfesuchend zu Opa Kurt. Der drückte langsam seine Overstolz aus und fixierte Wetten-Dieter mit einem strafenden Blick, während dieser Namen und Beträge mit krakeliger Kinderschrift in sein Notizbuch schrieb.

Opa Kurt sagte: „Dat is kein feinen Zuch. Hab ich dir dat beigebracht, Dieter?“

Wetten-Dieter vermied lieber den Augenkontakt mit Opa. „Wer nicht hören will muss fühlen, dat haste mir eingebläut, Kurt.“

Opa Kurt stand auf. Wumme und Kelle nahmen bedrohliche Haltung an. Jürgen und Günter schauten gespannt. Heinzchen hielt sich schön raus. Walter signalisierte Opa Kurt, bloß keine Schlägerei, wir verpassen sonst das Spiel.

„Zum letzten Mal, 300 Ocken, die Bank hält dagegen“, sagte Wetten-Dieter.

Doch Walter rührte sich nicht. Wetten-Dieter schnippte mit den Fingern. Seine Haudraufs packten den Dickkopf am Schlafittchen. Opa Kurt starrte Wetten-Dieter unvermindert an. Der vermied noch immer Blickkontakt, schwitzte aber merklich.

Wumme durchsuchte Walters Hosentaschen, holte einen Fünfziger heraus. Jürgen reichte Wumme freiwillig seinen letzten Zwanziger. Günter zog das Innere seiner Hosentaschen nach außen, nur Flusen und Staubkörnchen, nicht mal ‘n Groschen.

„Habt ihr ein Glück, dat ich heut meinen Solidarischen habe. Abflug, Freunde. Aber zügig!“ Wetten-Dieter machte eine fortwinkende Geste.

Mit trotziger Miene ließ Walter sich von Wumme und Kelle in Richtung Ausgang schieben und rief zu Wetten-Dieter rüber: „Ich komme wieder, da kannste einen drauf lassen.“

„Ganz bestimmt, du Terminator“, lachte Wumme.

„Kommste?“, fragte Jürgen und folgte Walter. Günter blickte unsicher zu Heinzchen.

„Hier wird um meine Zukunft gespielt, Günter, musste verstehehen, ich hab keinen Zoff mit WD.“

Die Absage war für Günter wie ein Tritt in die Magengrube, mit betrübter Miene folgte er seinen beiden Freunden.

„Jetzt haben wir unsere Ruhe, woll?“ Wetten-Dieter sank auf den Hocker neben Opa Kurt und wandte sich an den Wirt, „mach dem Kurt hier noch ’n Bier.“

„Mit dir trinke ich nicht.“

Wumme und Kelle kehrten inzwischen zurück. Kelle blaffte: „Brauchste auf die Fresse, Alter?“

„Du bist’n ganz Starker, woll.“ Opa Kurt griff einen Aschenbecher und fixiert Kelle. Der ballte belustigt die Fäuste. Plötzlich musste Opa Kurt wieder schwer husten und kippte dabei fast vom Hocker. Wetten-Dieter stützte ihn noch, Opa schob den helfenden Arm von sich.

Der Wirt sah nervös auf die große Uhr überm Tresen und drehte den Radioton wieder auf: „Tor in Hannover. Null zu eins aus Sicht der Gastgeber, der BVB trifft …

Der Jubel im Arschleder übertönte die Stimme des Radiomoderators. Alle konzentrierten sich sogleich aufs Spiel. Das große Zittern ging jetzt erst richtig los.

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