Anlässlich der in unserer Öffentlichkeit weitgehend ignorierten 80. Wiederkehr der Ermordung von Leo Trotzki in Mexiko City, am 21. August 1940, bemühte Max Säger ein befreundetes Medium nebst Ouija-Brett, um den Theoretiker und Praktiker der Revolution mit Fragen zur Gegenwart zu bombardieren. Bei Vollmond und klarem Himmel war es schließlich soweit. Ohne zu viel zu verraten, Herr Trotzki spricht noch immer ein hervorragendes Deutsch wie die Antworten zeigen und bleibt sich auch im Jahre 2020 unverändert selbst treu.
Erkennen Sie die Welt eigentlich noch wieder, Herr Trotzki?
Alles ist relativ in dieser Welt, in der nur Wandel beständig ist.
Und ihre ehrliche Meinung zum Zustand unseres Planeten?
Unser Planet wird zu einer dreckigen, übelriechenden imperialistischen Barracke.
Leider schreitet der Raubbau und die Zerstörung nicht nur ungebremst, sondern beschleunigt voran …
Das Leben ist keine leichte Sache. Man kann es nicht leben, ohne in Frustration und Zynismus zu verfallen, es sei denn, man hat eine große Idee vor Augen, die einen über persönliches Elend, über Schwäche, über alle Arten von Widerwärtigkeit und Niedertracht erhebt.
Die Propheten der digitalen Zukunft predigen unermüdlich von der Freiheit und dem Wohlstand, die diese Zukunft allen Menschen bringt, dabei überwiegen für die Mehrheit immer deutlicher die Nachteile.
Solange die menschliche Arbeitskraft und folglich das Leben selbst, Gegenstand von Kauf und Verkauf, von Ausbeutung und von Raub bleiben, bleibt das Prinzip der “Heiligkeit des menschlichen Lebens” eine schändliche Lüge, die mit dem Ziel ausgesprochen wird, die unterdrückten Sklaven in ihren Ketten zu halten.
Wir erleben gerade die dritte Wirtschaftskrise des 21. Jahrhunderts.
Kapitalismus lebt von Krisen und Hochphasen, so wie jeder Mensch durch Ein- und Ausatmen lebt.
Dann kann und wird sich nichts ändern, trotz aller gegenteiligen Beteuerungen und Propaganda der Profiteure und ihren Heloten.
Vielleicht kann ich die Wahrheit finden, indem ich die Lügen vergleiche.
Wie müssten die sich unabhängig und frei nennenden Medien ihr Publikum über die verlogene Propaganda informieren?
Der ernsthafte und kritische Leser wird keine verräterische Unparteilichkeit wollen, die ihm einen Becher der Versöhnung mit einem wohlgesetzten Gift des reaktionären Hasses am Boden anbietet, sondern eine wissenschaftliche Gewissenhaftigkeit, die für ihre Sympathien und Antipathien – offen und unverhohlen – Unterstützung in einem ehrlichen Studium der Tatsachen, einer Bestimmung ihrer wirklichen Zusammenhänge, einer Aufdeckung der kausalen Gesetze ihrer Bewegung sucht.
Sie sind ein Freund der Künste. Immer mehr Künstler leiden unter den Maßnahmen zur Eindämmung des Covid-19 Virus.
Kultur nährt sich aus dem Saft der Wirtschaft, und ein materieller Überschuss ist notwendig, damit Kultur wachsen, sich entwickeln und subtil werden kann.
Was bedeutet, Förderung durch Staat oder Mäzene. Nur heißt es nicht auch: wess’ Brot ich ess, dess’ Lied ich sing?
Es ist fraglos wahr, dass das Bedürfnis nach Kunst nicht durch wirtschaftliche Bedingungen entsteht.
Höre ich da ein Aber?
Eine wirklich revolutionäre Partei ist weder in der Lage noch willens, die Aufgabe einer Lenkung, noch weniger, die einer Gängelung der Kunst zu übernehmen, weder vor noch nach ihrem Machtantritt. Eine solche Anmaßung existiert nur in dem Kopf einer unwissenden, schamlosen, machttrunkenen Bürokratie, die zur Antithese der proletarischen Revolution geworden ist. Die Kunst und die Wissenschaft suchen nicht nur keine Lenkung, sondern können von ihrem Wesen her keine dulden.
Gute Kunst ist demnach immer politisch?
Der Künstler kann seinem Freiheitskampf nicht dienen, wenn er sich nicht subjektiv den gesellschaftlichen Inhalt aneignet, wenn er nicht in seinen Nerven dessen Bedeutung und Dramatik spürt und frei danach strebt, seiner eigenen inneren Welt in seiner Kunst eine Inkarnation zu geben.
Ein Themenwechsel. Von Mexiko City aus nach Norden geblickt: Der Niedergang des Imperiums vollzieht sich Zeitlupe, die Bedingungen, die es mit seiner Politik und seinem Militär in der Welt schaffte und schafft, sind längst im eigenen Land eingekehrt.
Terror ist ein mächtiges Mittel der Politik und man müsste schon ein Heuchler sein, um das nicht zu verstehen.
Diese Aussage beziehen Sie auf die Politik des Imperiums – nach außen wie nach innen?
Die Vereinigten Staaten sind nicht nur die stärkste, sondern auch die ängstlichste Nation.
Ein Wort zu dem scheidenden Präsidenten?
Zwischen seinem Bewusstsein und den Ereignissen stand immer dieses undurchdringliche Medium – die Gleichgültigkeit.
Das ewig dumme Gefasel des Establishments, vor allem jetzt, wo die Grußonkel in der Casa Blanca wechseln, will uns suggerieren, dass sich nun alles zum Guten ändert, dabei bleibt es in Wahrheit gleich.
Das Ende mag die Mittel rechtfertigen, solange da etwas ist, was das Ende rechtfertigt.
Das herrschende System ist nicht zu rechtfertigen, weder vom Ende, noch in seinem Vorgehen. Durch den Cares Act z.B. haben die Milliardäre dort seit dem 27. März ihr Vermögen um über 800 Milliarden gesteigert, während 14 Millionen Menschen ihre Krankenversicherung verloren. Das ist exemplarisch für das System an sich, wir sehen es in UK und ebenso ansatzweise in der EU.
Die Revolution ist solange unmöglich, bis sie unvermeidlich ist.
Was würden Sie dem Establishment zurufen, dass die unsäglichen Zustände, mit ihrer pervertierten Demokratiefarce nach 1971 herbeigeführt hat?
Ihr seid bemitleidenswerte, isolierte Individuen! Ihr seid Bankrotteure. Eure Rolle ist ausgereizt. Geht von nun an dorthin, wo ihr hingehört – auf den Müllhaufen der Geschichte.
Und den System-Medien, welche die Ideologie und Politik des Establishment eifrig propagieren?
Wer die Opfer verhöhnt, hilft den Henkern.
Hat angesichts der lähmenden Realität der Parlamentarismus für eine linke Opposition überhaupt eine Zukunft?
Der Boykott parlamentarischer Institutionen seitens der Anarchisten und Halbanarchisten wird von dem Wunsch diktiert, ihre Schwäche nicht einer Prüfung seitens der Massen zu unterziehen und so ihr Recht auf eine inaktive Haltung zu bewahren, die niemandem etwas nützt. Eine revolutionäre Partei kann einem Parlament nur dann den Rücken kehren, wenn sie sich die unmittelbare Aufgabe gestellt hat, das bestehende Regime zu stürzen.
Die Rechte flüchtet sich weltweit immer mehr in überkommene religiöse Symbolik.
Religionen sind primitiv und ignorant. Nichts ist lächerlicher und tragischer zugleich als religiöse Regierungen.
Der besonders in Europa gern geleugnete Klassenkampf tobt längst weltweit. Welche Entwicklung sehen Sie für die nächsten Jahre?
Eine Notwendigkeit hat zwei Enden: das reaktionäre und das progressive. Die Geschichte lehrt, dass Personen und Parteien, die an den entgegengesetzten Enden einer Notwendigkeit zerren, sich auf lange Sicht auf den entgegengesetzten Seiten der Barrikade wiederfinden.
Das kann ich ebenso auf den Konflikt innerhalb der Linken wie auf eine Konfrontation mit den erstarkenden Kräften des Faschismus beziehen.
Der Faschismus hat die Tiefen der Gesellschaft für die Politik geöffnet. Dort lebt neben dem 20. Jahrhundert-
Und dem 21. Jahrhundert-
-das zehnte und dreizehnte. Welch unerschöpfliche Reserven an Dunkelheit, Ignoranz und Wildheit besitzen sie! Die Verzweiflung hat sie aufgebracht, der Faschismus hat ihnen eine Fahne gegeben. Alles, was im Laufe der normalen Entwicklung der Gesellschaft in Form von kulturellen Exkrementen aus dem nationalen Organismus hätte ausgeschieden werden müssen, kommt jetzt aus dem Rachen herausgesprudelt; die kapitalistische Gesellschaft kotzt die unverdaute Barbarei aus.
Wo sehen Sie in Bezug darauf die Aufgabe der Linken?
Faschismus kommt nur, wenn die Arbeiterklasse völlige Unfähigkeit zeigt, das Schicksal der Gesellschaft in die eigenen Hände zu nehmen.
Die Rechte benutzt das komplette Spektrum menschenverachtender Begriffe und verleiht diesen damit eine scheinbare Legitimität im öffentlichen Diskurs.
Eine herabsetzende Sprache und Schimpfworte sind ein Erbe der Sklaverei, die Erniedrigung und Respektlosigkeit der menschlichen Würde, der eigenen und der anderer Menschen.
Was muss die Linke bis zu den nächsten Bundestagswahlen hier in Deutschland tun?
In der Zwischenzeit ist das erste Merkmal einer wirklich revolutionären Partei – der Realität ins Gesicht schauen zu können.
Und wie soll sie die Wähler abholen, um diesen Verkäuferbegriff zu verwenden?
Vergessen wir nicht, dass Revolutionen durch Menschen vollzogen werden, auch wenn sie namenlos sind. Der Materialismus ignoriert den fühlenden, denkenden und handelnden Menschen nicht, sondern erklärt ihn.
Ich höre schon wieder die rechten Propagandalautsprecher von der angeblichen Demokratiefeindlichkeit der Linken tönen.
Der Kommunismus braucht die Demokratie wie der menschliche Körper Sauerstoff.
Das zumindest haben der gescheiterte Stalinismus und sein Nachfolger Realexistierender Sozialismus bewiesen. Was hat neben der Scheindemokratie der Einparteienherrschaft noch zu ihrem Fall beigetragen?
Auf allen Gebieten des öffentlichen und des politischen Lebens ist die Bürokratie zum Werkzeug der Entmachtung, der Demoralisierung und Demütigung geworden. Vor allem auf dem Gebiet der Wirtschaft.
Die Bürokratie ist systemübergreifend ein echtes Problem. Noch eine Anmerkung zu Stalin, der unter Putin eine Renaissance erfährt, Herr Trotzki?
Niemand, Hitler inbegriffen, hat dem Sozialismus so tödliche Schläge versetzt wie Stalin. Es ist auch nicht verwunderlich: Hitler hat die Arbeiterorganisationen von außen attackiert, Stalin – von innen. Hitler attackiert den Marxismus. Stalin attackiert ihn nicht nur, sondern prostituiert ihn auch.
„Der Staat bin ich“, ist fast eine liberale Formel im Vergleich zu den Realitäten des totalitären Regimes Stalins. Ludwig XIV. identifizierte sich nur mit dem Staat. Die Päpste Roms identifizierten sich sowohl mit dem Staat als auch mit der Kirche – aber nur während der Epoche der weltlichen Macht. Der totalitäre Staat geht weit über den Cäsaro-Papismus hinaus, denn er hat auch die gesamte Wirtschaft des Landes erfasst. Stalin kann, anders als der Sonnenkönig, mit Recht sagen: „Die Gesellschaft bin ich.“
Einer der grausamsten absoluten Herrscher . . . Wie lautet heute mit dem großen Abstand Ihr kritischer Rückblick auf Ihr eigenes Leben?
Dreiundvierzig Jahre meines bewussten Lebens bin ich Revolutionär geblieben; zweiundvierzig Jahre davon habe ich unter dem Banner des Marxismus gekämpft. Wenn ich noch einmal von vorne beginnen müsste, würde ich natürlich versuchen, diesen oder jenen Fehler zu vermeiden, aber der Hauptverlauf meines Lebens würde unverändert bleiben. Ich werde als proletarischer Revolutionär sterben, als Marxist, als dialektischer Materialist und folglich als unversöhnlicher Atheist. Mein Glaube an die kommunistische Zukunft der Menschheit ist nicht weniger glühend, ja er ist heute fester, als er es in den Tagen meiner Jugend war.
Und wie trösten Sie sich dann über das Schneckentempo der Veränderungen hinweg, wo auf einen Schritt vorwärts, zwei, manchmal sogar drei Schritte rückwärts folgen?
Das Leben ist schön. Lasst die zukünftigen Generationen es von allem Bösen, von Unterdrückung und Gewalt reinigen und es in vollen Zügen genießen.
Dann möchte ich Sie doch um ein letztes Wort für all die jungen, idealistischen Kämpfer auf der ganzen Welt bitten . . .
Ich kann mich nur wiederholen: Die Revolution ist solange unmöglich bis sie unvermeidlich ist.
Herr Trotzki, ich danke Ihnen für diese Gespräch.
Bitte sehr, und halten Sie in Ihrem Bemühen, Ihren Horizont zu erweitern, nur nicht inne, junger Freund.
Eine erfrischende Perspektive! Diamat und Glücksgefühle. Und am Ende den Klassencharakter in die Tonne.
Eine erfrischende Perspektive! Diamat und Glücksgefühle. Und am Ende den Klassencharakter auf den Müll. Whatever happened to Leon Trotsky?