Fortsetzung von Teil 1: Nada und seine Rezeption, Disput mit Ernest Mandel, Vorwort zur spanischen Erstausgabe 1987, Manchettes Formel für einen Roman in der Série Noire . . .
EINGANGSZITATE
Das Herzklopfen für das Wohl der Menschheit geht darum in das Toben des verrückten Eigendünkels über, in die Wut des Bewußtseins, gegen seine Zerstörung sich zu erhalten, und dies dadurch, daß es die Verkehrtheit, welche es selbst ist, aus sich herauswirft und sie als ein Anderes anzusehen und auszusprechen sich anstrengt. -Georg Friedrich Hegel
Dieses erste Nada vorangestellte Zitat stammt aus dem Werk Phänomenlogie des Geistes, Kapitel Die Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewusstseins durch sich selbst, Abschnitt b) Das Gesetz des Herzens und der Wahnsinn des Eigendünkels. In unserer Alltagssprache ausgedrückt: Gesetzmäßigkeit von Begierden und Selbstüberschätzung.
(Randnotiz: Der gute Hegel glaubte, der Weltgeist steuert auf die Vervollkommnung am Ende der Geschichte zu und dass die Vernunft obsiegen würde. Er sah auch zeitweilig in Napoleon den besagten Weltgeist in Action. – Im Nachhinein ist man immer schlauer.)
Als Kontrapunkt setzt Manchette ein zweites Zitat aus der Zeitschrift Le Chasseur française, vergleichbar mit Jagd und Wild, Pirsch oder Halali, oder wie diese Schwachsinnspostillen hierzulande heißen:
Wenn man schon schießen muss, dann sauber und ordentlich, Nachteile schwerer Kaliber sollten vermieden werden (…) eine tadellose Tötung muss das Hauptanliegen eines jeden Jägers darstellen (…)
Diese zwei Pole bilden das verzweifelt-ironische Spannungsfeld des Romans.
KLAPPENTEXT VON GALLIMARD
Der Gendarm Georges Poustacrouille, der mit seinem Bereitschaftszug an der Tötung der Anarchisten beteiligt war, schrieb sehr treffend an seine geliebte Mama:
„Die Wange hinhalten ist schön und gut, aber was soll man tun, wenn man Leute vor sich hat, die alles zerstören wollen? Man spuckt auf das Land, die Familie, die Autorität, nein, aber manchmal reicht’s! Was für eine Brut, diese Anarchen! Und was für eine Idee auch, zu glauben, man könne alles revolutionieren, indem man den Botschafter der Vereinigten Staaten in Paris entführt!“
Im selben Brief bat er Mami auch darum, ihm doch sein Furzkissen zu schicken, denn seine Stube möchte für einen frisch beförderten Unteroffizier eine kleine Fete ausrichten.
Nach diesem Entree geht’s in Nada erst los . . .
WAS WEITER GESCHIEHT
Säufer D’Arcy versucht seinen alten Kumpel, den inzwischen völlig korrupten Ex-Revolutionär Épaulard anzuwerben, der aber hält das ganze Unterfangen für schwachsinnig und rät D’Arcy, sich zu verpissen.
Das alarmiert Buenoventura Diaz, einen abgehalfterten, vom Pokerspiel lebenden Anarchisten. Er beschließt, dem unwilligen Mitwisser auf den Zahn zu fühlen. Nach ein paar Tritten und Fausthieben erkennen die beiden einander wieder und Épaulard ist schließlich doch dabei. Die weiteren Nada-Anarchisten sind: die Gelegenheitsnutte Veronique Cash, der Kellner Meier und der Philosophielehrer Marcel Treuffais, der auch als Verfasser des Manifests zeichnet.
Nachdem sie sich clever und erfolgreich Schusswaffen von der Polizei organisieren und die Vorbereitungen nahezu abgeschlossen sind, bekommt ausgerechnet Treuffais Muffensausen – er führt grundsätzliche ideologische Bedenken ins Feld – und steigt aus.
Während Treuffais ziemlich nervös in seiner Bude hockt, schafft es die Gruppe auch ohne den Vordenker, denn ihr Plan ist ziemlich gut recherchiert und durchdacht. Dabei hilft ihnen die Tatsache, dass aus Botschafter Poindexters unberechenbarem Terminkalender ein Jour-fix herausragt: Der regelmäßige Besuch eines Pariser Edel-Bordells. Der Ort, um ihre Geisel abzugreifen, ist somit gefunden. Abgesehen von ein oder zwei Todesfällen, geht der Plan auf. Ebenso problemlos gelingt ihnen die Flucht.
Sie versenden ihr Bekennerschreiben mit den Forderungen an die wichtigsten Presse-Agenturen und Zeitungen und warten in ihrem abgelegenen Versteck auf die Reaktion des Staates und der Öffentlichkeit.
Pech allerdings, dass ausgerechnet irgendeine rechte Absplitterung des Staatsschutzes das in der Nähe des Elysee-Palasts liegende Bordell – in dem sich regelmäßig Staatsgäste verlustieren – überwacht und so die Entführung mit einer Schmalfilmkamera dokumentieren kann. Ihr heißes Bildmaterial treibt die Fahndung voran und dient zudem als Tauschware, um in einem Händel den inhaftierten kriminellen Chef der Absplitterung aus dem Knast freizupressen. (Dies nur am Rande.)
Als Terroristenjäger spannt der Adlatus des Innenministers den „vorübergehend ohne besondere Aufgabe befindlichen, sich aber immer als außerordentlich staatstreu erwiesenen“ Kommissar Goémond ein. Ermuntert durch seinen Auftraggeber schickt der Vollstrecker sich an, mit dem Geschmeiß kurzen Prozess zu machen . . .
Ein blutiges Massaker katapultiert uns in den dritten Akt.
EINE KRITIK AUS FRANKREICH
Edouard Waintrop vermerkte 2005 zur Veröffentlichung eines Bandes mit allen neun Roman noirs sowie einem unvollendeten Text, der eine neue Richtung begründen sollte, in der Zeitung LIBERATION:
Manchette taucht auf (…) und stellt Figuren in den Mittelpunkt seiner Handlungen, Aktivisten aus der Dritten Welt, 68er, Anarchisten, abgehalfterte Manager, die zwar die Stars der 60er und 70er Jahre waren, aber bis dato noch nicht im Kriminalroman erschienen sind.
In Nada zeigt Manchette, dass er auf das Wesentliche zusteuern kann. Die Geschichte, die er erzählt, ist kurz, die Prosa trocken, die Dialoge schneidend und die Handlung unerbittlich. Es gibt zwar einige Detailfehler, aber das Gesamtbild ist mitreißend.
In ihrem Zentrum steht die Behauptung, dass linker Terrorismus Schwachsinn ist und der bewaffnete Kampf „getrennt von einer offensiven sozialen Bewegung“ vom Staat genutzt wird, um seine Autorität noch mehr zu festigen. Dies war 1972 eine weise Erkenntnis, als Maoisten (die Manchette verachtete) oder Anarchos noch nicht soweit dachten.
Hier ein Detailfehler, den Waintrop explizit bemängelt:
Manchette, dieser Nonkonformist, ein Leser von Debord und Orwell, legt seinem Helden Diaz zweimal „Es lebe der Tod!“ in den Mund. Das ist alles andere als „anarchistisch“. Diese Parole wurde von dem finsteren General José Millán-Astray ausgegeben, der im Auftrag des Generalissimus Francisco Franco die nach dem Vorbild der französischen Fremdenlegion gegründete „Spanische Legion“ befehligte.
EINE KRITIK AUS DEN USA
Tom Roberge schrieb 2019 anlässlich der Veröffentlichung von Nada bei New York Review of Books:
Ein weniger talentierterer Autor, der einen geringeren Wert auf Nuancen legt, hätte diese Figuren mit groben, cartoonhaften Strichen gezeichnet, und die Handlung in reine Parodie ausarten lassen. Manchette versteht jedoch nicht nur die Ziele seiner Figuren, sondern auch ihre komplexen Beweggründe – manche bewusst, andere unbewusst. Er kennt die Auswirkungen, die das von ihnen verabscheute System auf sie hat, und weiß daher um ihre Wut (…)
In seinem Werk sind Politik und Persönliches immer miteinander verwoben. Das Leben seiner Figuren, selbst wenn diese streng unpolitisch sind, wird immer von politischen Kräften geprägt. Nada stellt (neben L’Affaire N’Gustro, MiC) jedoch etwas anderes in Manchettes Schaffen dar, die Handlung ist offenkundig politisch. Hier bringt er die komplexen Themen der französischen Politik nach dem Zweiten Weltkrieg ganz nah an die Oberfläche – aber nicht ganz an die Oberfläche. Wie immer hält er sich geschickt mit Verallgemeinerungen zurück und schafft einen Roman, der entlarvt und kritisiert, aber vor allem unterhält.
MANDEL MÄKELT AM REVOLUTIONÄREN GEHALT
Ernest Mandel nahm Nada völlig anders wahr und kritisierte 1986 dementsprechend:
Die Ansichten des Linken Jean-Patrick Manchette sind unbestreitbar. In Nada (1972) wird die Grausamkeit der polizeilichen Unterdrückung schonungslos geschildert. Aber die absichtlich verdrehte und zweideutige Geschichte erlaubt es, dass sie von unpolitischen Akteuren oder sogar nicht-politischen Akteuren missverstanden wird – wenn nicht auch von Filmemachern und Kritikern der Rechten. Durch die Haltung, alles politische Handeln als lächerlich darzustellen, weil es unwirksam und daher zum Scheitern verurteilt ist, bricht diese Literatur weniger mit dem System, sondern erweckt eher den Eindruck sich „voll an Bord zu befinden“.
Unter diesem Gesichtspunkt setzt Manchette eine anarchistische linke Tradition fort. Indem die Besitzenden und die Revolutionäre, die sich allesamt durch den gleichen angeblichen Mangel an Klarheit und Menschlichkeit auszeichnen, in einen Sack gesteckt werden, akzeptiert diese Tradition die alten abgenutzten „Weisheiten“ der herrschenden Klasse – die von einem Teil der Volksmassen verbreitet werden –, nämlich „je mehr sich die Dinge ändern, desto mehr bleiben sie gleich“ und „es gab schon immer Reiche und Arme, Herrschende und Beherrschte“.
Die erste Schlussfolgerung lautet demnach: Es ist sinnlos, sich aufzulehnen. Und die zweite Schlussfolgerung: Die Dinge bleiben so, wie sie sind. Wir können es selbst nicht ändern, also lasst uns unseren Garten pflegen.
All das nützt nur den Mächtigen. Individuelle Revolte und soziale Revolution unterstützen sich nicht automatisch gegenseitig.
Es stimmt, dass Jean-Patrick Manchette seine Ablehnung scheinbar nur auf die individuelle Revolte beschränkt. So lässt er (Buenaventura Diaz auf Band, MiC) sprechen: „Der linke Terrorismus und der Staatsterrorismus sind, obwohl in ihren Motive nicht vergleichbar, die zwei Schnappbügel der gleichen Falle für Idioten. (…) Der Desperado ist eine Ware, ein Tauschwert, ein Verhaltensmuster wie der Polizist oder der Heilige. (…) Das ist die Falle, die den Rebellen gestellt wird, und ich bin hineingetappt.“
Da es kaum einen Unterschied zwischen „rebellisch“ und „revolutionär“ gibt, weil das Revolutionäre für Manchette nicht existent, sondern unmöglich ist („Der Marxismus ist eine Täuschung“), läuft es aber aufs Gleiche hinaus: Es kann sich nichts ändern.
Manchettes Erfolg beruht auch darauf, dass er auf seine Weise die große Ernüchterung nach dem Mai 68 zum Ausdruck bringt, die später durch die Enttäuschung nach der Wahl Mitterrands zum Präsidenten noch verstärkt wurde.
(N.B. Mandel, dessen Analyse des Kriminalromans Meurtre exquis wirklich lesenswert ist und interessante Ansätze und Gedanken bietet, versteht hier offenbar den Autor nicht.)
MANCHETTES REPLIK
Diesen „Angriff“ konnte Manchette nicht auf sich beruhen lassen und fügte eine Kopie seines öffentlichen Textes einem Brief an Michel Lebrun mit dem Hinweis bei: PS. Der Text gegen Ernest Mandel ist wahr, er ist aber mittelmäßig? Er trägt den schönen Titel . . .
POLEMIK: DIE WICHTIGKEIT, ERNEST ZU SEIN
So sehr ich mich darüber freue, von einem Mandel beleidigt zu werden, so sehr bedauere ich für ihn die Dummheit des Verfahrens, das er anwendet. Um mich in die Kategorie der passiven und demoralisierenden Anarchisten einzuordnen, fiel diesem Ernest nichts Besseres ein, als mir die Aussagen von zwei Figuren aus zwei meiner Romane zuzuschreiben, von denen eine tatsächlich ein Anarcho* ist (wenn auch sehr wenig passiv), während die andere ein faschistischer Nihilist* ist. Das Verfahren ist so abgedroschen wie Ernest selbst. Und gerade dieser hat eine langjährige Erfahrung mit Tricksereien. Als Natalia Sedowa Trotzki 1951 mit der Vierten Internationale brach, weil Mandel und seine Kumpane dort weiterhin behaupteten, die UdSSR sei ein Arbeiterstaat, wurde sie einfach als arme Irre bezeichnet (eine „Revolutionärin, die den Kopf verliert“, heißt es in der Erklärung des Internationalen Exekutivkomitees zum Brief von Natalia Sedowa Trotzki, Juni 1951).
* gemeint sind Buenaventura Diaz und Henry Bruton
(…)
Es wäre leicht, aber ermüdend, aufzuzeigen, wie „Exquisite Morde“ neben anderen Schwächen auch die Schwäche aufweist, die politische Linie der Zuhälter der Vierten Internationale systematisch auf die arme „Sozialgeschichte“ des Kriminalromans anzuwenden. Es sei nur daran erinnert, dass Ernest Mandel, ob er nun als Ökonom, als Bürokrat oder jetzt als Literaturkritiker agiert, ein schamloser Lügner ist.
Wer die Korrespondenz von Jean-Patrick Manchette liest, der stellt schnell fest: Er nahm keine Gefangenen. Um aber die heftige emotionale Reaktion auf Ernest Mandels sachliche Kritik nachvollziehen zu können, muss man Manchettes besondere Verbindung zu Nada verstehen. So teilte er bei der Beantwortung eines Fragebogens einer Berufsschulklasse 1994 mit:
Ich persönlich stand der schon immer der „Politik“ – oder besser gesagt den ultralinken Dissidenten – nahe. Das ist ein wichtiger Faktor in meinem Weltbeld und bestimmt, was ich zu vermitteln versuche. 1973* kannte ich zum Beispiel Leute, die in den „bewaffneten Kampf“ einsteigen wollten. Ich dachte wirklich an sie, als ich einen Roman über eine anarcho-terroristische Entführung in Frankreich schrieb. Denn ich versuchte, ihnen zu zeigen, warum so etwas nur schlimm ausgehen kann. Jahre später war ich zutiefst erfreut, als ich erfuhr, dass mir persönlich unbekannte junge Extremisten, die gewalttätige Aktionen planten, meinen Roman wie einen theoretischen Text gelesen und diskutiert hatten und von ihm beeinflusst wurden. (…) Einer von ihnen wurde ein Anführer der Action directe. Aber die anderen folgten ihm nicht. Vielleicht habe ich dazu beigetragen.
(*Jahreszahl im Original. Müsste sich eigentlich 1972 oder früher zugetragen haben, MiC)
Mandels „ignorante und falsche Kritik“ traf einen für Manchette sehr wichtigen Punkt. Denn er betrachtete die „entfremdeten“ Terroristen nicht als Avantgarde, als die sich z.B. die deutsche Rote Armee Fraktion verstand, sondern als Verhinderer einer breiten gesellschaftlichen Revolution.
Manchette war seinem eigenen Werk gegenüber sehr kritisch. Nachdem er den Text „Über Terrorismus und Staat“ des Italieners Gianfranco Sanguinetti, einem Vertrauten Guy Debords, studiert hatte, sprach er offen über ein Defizit in Nada.
Und konstatierte 1987 im . . .
VORWORT ZUR SPANISCHEN AUSGABE
Wenn ich Nada heute, fast fünfzehn Jahre nachdem ich ihn geschrieben habe, betrachte, scheint es mir, dass er immer noch ein ziemlich gut ausgeführter Noir-Roman ist, aber dass sein „politischer“ (oder besser gesagt, bürgerlicher) Aspekt unzureichend und veraltet ist, und dieser Aspekt bereits unzureichend und veraltet war, als ich den Roman schrieb.
In dieser Hinsicht warnt Nada nämlich lediglich die ernsthaften Anhänger der direkten Aktion und des bewaffneten Kampfes und zeigt auf, wie ihre Aktionen, wenn sie von einer offensiven sozialen Bewegung abgespalten sind, vom Staat für das genutzt werden, was die italienische Linke damals die „Strategie der Spannung“ nannte.
Eine solche Sichtweise ist unzureichend, weil sie leichtfertig die direkte Manipulation des Terrorismus durch die Geheimdienste des Staates vergisst. Der wenn nötig gegen die eigenen Untertanen und sogar die eigenen Führer vorgeht, wie wir in Italien in der Moro-Affäre und bei den sogenannten „Roten Brigaden“ gesehen haben (oder in Frankreich bei „Action directe“ und in Spanien bei GRAPO, die kaum noch Polizisten brauchen, wenn sie sich damit begnügen können, einen Supermarkt, in dem die ETA eine Bombe platziert hat, nicht zu räumen).
Wenn ich 1972, als ich mich in diesem Roman über den Terrorismus mit seiner indirekten Anwendung durch den Staat beschäftigte, und dabei dessen direkte Manipulation vergaß, dann vielleicht, weil ich die große Entwicklung nicht vorhersehen konnte, die diese direkte Manipulation in den folgenden Jahren nehmen würde. Aber schon 1969 hatte die italienische Geheimpolizei in Mailand eine Bombe gezündet … Man hätte also erkennen können, dass diese „Art des Regierens“ eine große Zukunft vor sich haben würde.
Nada blieb jedoch in dieser Hinsicht stumm; das ist der größte Mangel des Romans.
Es ist erfreulich, dass diese Notiz der ersten spanischen Übersetzung von Nada beigefügt ist. Denn im Spanien der 1930er Jahre konnte die Gruppe „Nosotros“ im Gegenteil zeigen, was bewaffnete Aktionen bewirken können, wenn sie eine soziale Bewegung begleiten, ohne so zu tun, als ob sie diese herbeigeführt hätten oder zu versuchen, ihre Führung zu übernehmen.
LINK Eine intelligente Analyse des gleichnamigen Films von Claude Chabrol . . .
EIN ROMAN FÜR DIE SÉRIE NOIR?
In einem Brief an den Dichter, Journalisten und Romancier Paul Buck, der 1988 versuchte, einen Roman bei Gallimard zu platzieren, erläuterte Manchette seine Vorstellungen einer „Formel“ für einen Polar, der von der SN angenommen wird:
Die Série Noire wird einen Roman veröffentlichen, der nach den Kriterien der Sammlung „exzentrisch“ ist (das bezieht sich auf Bucks Red Ascend, einem literarischen Roman, zu dem Manchette sich auf seine Eignung für die SN hin äußerte, MiC), sofern das Buch die unten aufgeführten Kriterien erfüllt. Diese Kriterien kann man anhand folgender Elemente definieren, die mehrheitlich in den „guten“ Büchern der SN enthalten sind.
(A) Verbrechen und körperliche Gewalt von Anfang bis Ende.
(B) Eine „hartgesottene“ Perspektive auf eine harte, bittere und ungerechte Welt.
(C) Ein behavioristischer oder halb-behavioristischer Stil, wie ihn die amerikanischen Schriftsteller der 1920er und 1930er Jahre hervorbrachten, indem sie die Tradition des französischen Realismus des 19. Jahrhunderts (Flaubert) übernahmen und neu formulierten, um falsches Bewusstsein und Desillusionierung darzustellen.
(D) Jegliche literarische Qualität, von „Ideen“ und „Thema“ bis hin zu Originalität und/oder handwerklichem Geschick, die nicht mit den ersten drei Elementen in Verbindung steht.
Gemäß dieser Kriterien der Sammlung kommt Element D in jedem exzentrischen Série-Noire-Roman vor. Es wird jedoch zwingend von den Kriterien AB, AC oder BC oder zumindest A unterstützt. (Jerome Charyn ist ein AD-Grenzfall; mein Roman Fatale wurde als D abgelehnt, da Element A auf das erste und die letzten drei von insgesamt 16 Kapiteln beschränkt war.) Die Romane von Robin Cook alias Derek Raymond sind eindeutig ABD.
Mein eigener Roman L’Affaire N’Gustro ist klar BD mit nur einer geringen, wenn auch konstanten Dosis Gewalt. Er wurde beinahe abgelehnt und tatsächlich erst angenommen, als ich mit Laissez bronze les cadavres! den „Beweis“ für meine Fähigkeiten in den ABC-Elementen erbrachte.
Wenn Sie einen Roman für die Série Noire schreiben wollen, dann sollten Sie sich mit den Kriterien auseinandersetzen oder sie sogar vollständig annehmen (das wollte ich in La Position du tireur couché tun, nachdem Fatale abgelehnt wurde). Sie könnten erwägen, alle zehn Seiten jemanden kommentarlos zu töten.
(MiC: Der letzte Satz ist eine gute Idee. Sinnlose Gewalt steht in unserer Gesellschaft hoch im Kurs, zur Erschütterung, Empörung oder Erbauung. Je nach dem. Hauptsache sie geschieht brav woanders.)
LINK Ein weiteres Anschauungsobjekt: Le Petit Bleu de la Côte Ouest . . .
DIE SÉRIE NOIRE HEUTE
Die Welt hat sich seit ihrer Hochphase – 1950er bis in die späten 1970er Jahre – stark verändert. Es wäre zu einfach, die Série Noire in unserem Debordschen Zeitalter des permanenten Spektakels als Anachronismus abzutun. Sie ist es nicht – selbst wenn es heute kaum mehr schnelle Thriller mit 40.000 Worten gibt und auch viel weniger Titel erscheinen – das beweisen insbesondere DAOs Romane.
In unserer „endlosen Gegenwart“ ist das Verbrechen omnipräsent. Wie Franco ‚Bifo‘ Berardi feststellt: „Wenn der Wert nicht mehr durch das genaue Verhältnis zur Arbeitszeit bestimmt werden kann, sondern spekulativ ist, werden seine bestimmenden Faktoren zu Täuschung, Betrug und Gewalt.“
Beschreibt das nicht treffend unseren Zocker-Finanzkapitalismus, wo sich Insider unendlich bereichern und wenn’s schief geht von den Zentralbanken retten lassen, und ebenso die unsägliche Influencerscheiße in den asozialen Medien, wo Teenies andere Teenies zum Kaufrausch animieren?
Bleibt die Frage: Wenn das Verbrechen ein Teil des Systems ist, warum müssen wir also noch darüber lesen?
Hierauf Ernest Mandel in Fortsetzung seines Eingangszitats von Teil 1:
Zitat: „Wenn die bürgerliche Gesellschaft an und für sich Verbrechen hervorbringt, aus dem Verbrechen entsteht und zum Verbrechen führt, ist die bürgerliche Gesellschaft letztlich nicht eine kriminelle Gesellschaft?“
Das Fragezeichen am Ende hätte Mandel sich getrost schenken können. Das System ist das Verbrechen! Denn Kriminalität in dem Ausmaß, wie wir sie tagtäglich erleben – von Betrug durch die Banken, über die Insidergeschäfte der Politik und dem Vorantreiben der Interessen von Großkonzernen, bis zu imperialistischen Stellvertreterkriegen wie in der Ukraine, um nur wenige Beispiele zu nennen –, ist nur in einer von sich selbst, von der Arbeit, der Natur und von den Mitmenschen völlig entfremdeten Gesellschaft möglich. Fügen wir deshalb als Antwort auf die obige Frage, warum wir über das Verbrechen lesen müssen, hinzu: „Dass die Wahrheit im Angesicht der üblen Propaganda, der Lügen und der Selbstbeweihräucherung der uns beherrschenden, ausbeuterischen Minderheit, dieser sogenannten Elite, immer wieder und wieder gesagt und an aktuellen Beispielen neu veranschaulicht werden muss.“
DIE AUFGABE DES NOIR-ROMANCIERS . . .
Der Roman noir wird (wie der Jazz) nicht mehr aus seiner Wiederholung in der Form herauskommen. Aber der Roman noir muss da auch nicht herauskommen. Seine Formengeschichte dauerte knapp zehn Jahre – von RED HARVEST bis THE BIG SLEEP. Doch gibt es nicht nur die Form. Es gibt die Stoffe, die der Roman noir anpackt. Von daher gesehen, erschöpft sich eher die Phantasie als der Nachschub aus der bürgerlichen Gesellschaft. Ich behaupte mit tödlichem Ernst: Nur der Sturz des Kapitalismus kann bewirken, dass der Roman noir überholt ist.
Jean-Patrick Manchette, Chroniques, Schwarze Krümel, 1995 (eine seiner letzten Veröffentlichungen)
LINK Manchette-Interview Teil 2 . . .
QUELLEN für Teil 1 und Teil 2:
-The Série Noire and Social Intervention, Essay von Russell Williams, LARB, 2015
-How the Hell Did It All Come to This?: The Political Noirs of Jean-Patrick Manchette, Essay von Tom Roberger, LARB 2019
-La charge à la Manchette, Edouard Waintrop, Liberation, 2005
-Meurtre exquis, Ernest Mandel, Paris, La Brèche, 1986
-Série Noire, L’Affaire N’Gustro, Gallimard, 1971
-Série Noire, Nada, Gallimard, 1972
-Histoire Noire, Transcript Verlag, 2007
-Chroniques, Jean-Patrick Manchette, Rivages/Écrit noir, 1996
-Nada, Vorwort spanische Erstausgabe, 1987
-Lettre du Mauvais Temps, Correspondance 1977-1995, Jean-Patrick Manchette, Editions Table Ronde, 2020
(Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen MiC.)