HABECKS „KLARE“ REDE – ein unreflektiertes, polemisches Treuegelöbnis

Der Staat ist nicht die Realität, die hinter der Maske der politischen Praxis steht. Er ist selbst die Maske, die uns daran hindert, die politische Praxis so zu sehen, wie sie ist“, schrieb der Soziologe Abrams 1975. Spätestens seit Corona gilt das nicht mehr. Seitdem haben die politischen Mandatsträger keine Gelegenheit ausgelassen, unseren Staat und damit ihre eigene „politische Praxis“ öffentlich zu demaskieren. Die von den Systemmedien als „vielbeachtet, wuchtig und notwendig“ gepriesene Rede des Vizekanzlers Robert Habeck am 01.11.23 zum Antisemitismus in Deutschland, zu Israel, Hamas und Gaza ist eine weitere Selbstdesmaskierung. Sie beweist das „geistig-moralische“ Selbstverständnis des Systems, das tagtäglich die Umstände produziert, vor deren Konsequenzen seine Repräsentanten uns warnen …

Nachfolgend einige kommentierte Auszüge der Videoansprache auf Basis eines Transkripts.

HABECK:Der Satz ,Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson‘ war nie eine Leerformel und er darf auch keine werden. Er sagt, dass die Sicherheit Israels für uns als Staat notwendig ist. Dieses besondere Verhältnis zu Israel rührt aus unserer historischen Verantwortung: Es war die Generation meiner Großeltern, die jüdisches Leben in Deutschland und Europa vernichten wollte.

MiC: Der Satz „Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson“ bedeutet nicht, die zionistische Politik des Staates zu unterstützen, deren Ziel es ist, die palästinensische Bevölkerung aus dem Gazastreifen, aus Ost-Jerusalem und dem Westjordanland zu vertreiben. Sonst wären ethnische Säuberungen und möglicherweise Genozid deutsche Staatsräson.

Die historische Verantwortung der Deutschen als Initiatoren des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts an den europäischen Juden besteht im: Nie wieder! Dieses Bekenntnis kann nur ein Versprechen an alle Menschen sein, die unschuldig Verfolgung, Vertreibung und Ermordung ausgesetzt sind, folglich auch an die Palästinenser und nicht alleine an den Staat Israel.

LINK: Fakten und Hintergründe zum Konflikt …

HABECK: Die Gründung Israels war danach, nach dem Holocaust, das Schutzversprechen an die Jüdinnen und Juden – und Deutschland ist verpflichtet, zu helfen, dass dieses Versprechen erfüllt werden kann. Das ist ein historisches Fundament dieser Republik.

MiC: Die Gründung des Staates Israel war eine Folge des wachsenden Antisemitismus in Europa, der Pogrome in Osteuropa und dem Aufkommen der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert. Die ersten Landkäufe in Palästina fanden schon in den 1870-er Jahren statt. Theodor Herzl, der Motor der zionistischen Bewegung, versuchte, die damaligen Kolonialmächte von der Gründung einer europäischen, jüdischen Kolonie in Palästina zu überzeugen. Eines seiner Hauptargumente war, dass damit das „Judenproblem“ in den europäischen Staaten gelöst werden würde. Die zionistische Bewegung verstärkte ihre Bemühungen und gewann mit Lord Balfour 1917 einen einflussreichen Fürsprecher in Großbritannien. Angesichts des Holocausts genossen Zionisten nach 1945 durchaus Sympathien für ihren eigenen Staat. Allerdings schreckten die Engländer und die USA vor der Maximalforderung zurück, die in Palästina lebenden Araber umzusiedeln. Von 1947-48 tobte der sogenannte Bürgerkrieg im britischen Mandat Palästina. Auf die Unabhängigkeitserklärung Israels im Mai 1948 folgte bis 1949 ein weiterer israelisch-arabischer Krieg. Der Kompromiss war die Zwei-Staaten-Lösung, die anfangs 40% des Territoriums für die Palästinenser vorsah und 60% für die Israelis.

Der 6-Tage-Krieg 1967 und der Besetzung von Gaza, dem Westjordanland sowie Ost-Jerusalem veränderte die Aufteilung drastisch zugunsten Israels. Die Zustimmung zu der israelischen Staatsgründung war zudem an die Lösung des Flüchtlingsproblems gekoppelt. Das war eine zentrale Forderung der UN sowie der USA. Israel hat jedoch von Anfang an sämtliche UN-Resolutionen zu den Flüchtlingen und der Zwei-Staaten-Lösung ignoriert und ist jetzt im Begriff, seine Maximalforderung umzusetzen, auf die seit mindestens 1967 die Politik aller Regierungen in Tel Aviv und nun Jerusalem abzielt.

(Vielleicht war das Oslo-Abkommen zwischen Rabin und Arafat die Ausnahme. Doch selbst diese Verträge gaben Israel die Kontrolle über die Sicherheit von Palästina, das somit kein wirklich souveräner Staat gewesen wäre.)

Fakt ist: Die USA haben seit der Clinton-Administration Israel nahezu bedingungslos unterstützt.

Das deutsche Schutzversprechen muss in diesem Kontext gesehen werden und das, Herr Habeck, ist keine Relativierung. Sonst sprechen sie einem Volk alle Rechte zu, die sie einem anderen, zudem am europäischen Antisemitismus, Kolonialismus und Holocaust unschuldigen Volk absprechen. Die deutsche Pflicht, wie Sie es nennen, besteht demnach darin, sich aktiv für eine im Sinne beider Seiten gerechte Friedenslösung zu engagieren, nicht in einseitigen Loyalitätsschwüren zu ergehen.

HABECK: Die Verantwortung unserer Geschichte bedeutet genauso, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland frei und sicher leben können. Dass sie nie wieder Angst haben müssen, ihre Religion, ihre Kultur offen zu zeigen. Genau diese Angst aber ist nun zurück.

MiC: Da haben Sie absolut recht. Es stellt sich die Frage, Herr Habeck, inwiefern die von Ihnen genannte Staatsräson und die von Ihren Vorgängerregierungen und Ihnen betriebene Politik mit zur Rückkehr der Angst beigetragen hat und beiträgt.

LINK: Die Staatsmacht greift gegen Antizionisten durch …

HABECK: Der Antisemitismus zeigt sich auf Demonstrationen, er zeigt sich in Äußerung, er zeigt sich in Angriffen auf jüdische Läden, in Drohungen. Während es schnell große Solidaritätswellen gibt, etwa wenn es zu rassistischen Angriffen kommt, ist die Solidarität bei Israel rasch brüchig. Dann heißt es, der Kontext sei schwierig. Kontextualisierung aber darf hier nicht zur Relativierung führen.

MiC: Der Kontext ist nicht schwierig, er ist recht einfach. Der Staat Israel, dessen Gründungsmotive und -situation ich oben skizziert habe, ist ein Siedlerkolonialstaat. Bei seiner Gründung wurden 750.000 Palästinenser vertrieben (von den Ermordeten ganz zu schweigen). Diese Flüchtlinge leben seit drei Generationen in Flüchtlingslagern in Jordanien, Syrien, im Libanon, im Westjordanland und im Gazastreifen. Israel ist ein Apartheidsstaat, seine palästinensischen Bürger sind Bürger zweiter Klasse. Seit 1967 hat Israel das Westjordanland, die Golanhöhen und den Gazastreifen besetzt. Der Kampf der Palästinenser für ihr Existenzrecht und irgendeine faire Lösung der Staatenfrage ist nach UN-Statuten damit ein legitimer Freiheitskampf. Angesichts der Überlegenheit des israelischen Militärs wird dieser Freiheitskampf auch mit den Mitteln des Terrorismus geführt (so wie die Haganah in den Jahren vor der israelischen Staatsgründung ihn ebenfalls führte). Das ist kriminell und abzulehnen, aber nachvollziehbar.

Der orthodoxe israelische Intellektuelle Yeshayahu Leibowitz sagte in einer öffentlichen Rede nach dem palästinensischen Terroranschlag gegen israelische Sportler bei den Olympischen Spielen 1972 in München: „Wer den Terrorismus der palästinensischen Organisationen verurteilt, muss gleichzeitig den Terrorismus der israelischen Besatzung des Westjordanlandes und des Gazastreifens verurteilen.“ Für ihn galten die palästinensischen Terroranschläge gegen Israelis im Ausland als Akte des „Terrorismus gegen den Terrorismus“.

Blinken mit dem gefügigen Partner Abbas, dem Gegner von Hamas im Westjordanland

HABECK: Wir haben sicherlich oft zu viel Empörung in unserer Debattenkultur. Aber hier können wir gar nicht empört genug sein. Es braucht jetzt Klarheit und kein Verwischen. Und zur Klarheit gehört: Antisemitismus ist in keiner Gestalt zu tolerieren – in keiner.

MiC: Von welcher Debattenkultur reden Sie? Debatten können nur mit einem verhältnismäßig klarem Kopf und in sachlicher Atmosphäre geführt werden. Nicht gerade deutsche Tugenden. Über Antisemitismus bedarf es keiner Debatte. Antisemitismus ist konsequent abzulehnen, über die Ursachen muss aber offen debattiert werden. Deshalb darf Empörung nicht als „bequeme Keule“ benutzt werden, um einen berechtigten Diskurs über das Vorgehen der Regierung Netanyahu und des israelischen Militärs zu diskreditieren. Die Systemmedien bedienen sich häufig just dieser Keule. Damit senden sie Signale an ihr Publikum, erzeugen jedoch einen gegenteiligen Effekt bei vielen anderen.

HABECK: Das Ausmaß bei den islamistischen Demonstrationen in Berlin und den weiteren Städten Deutschlands ist inakzeptabel und braucht eine harte politische Antwort. Es braucht diese auch von den muslimischen Verbänden. Einige haben sich klar von den Taten der Hamas und vom Antisemitismus distanziert, haben das Gespräch gesucht. Aber nicht alle, und manche zu zögerlich und ich finde, insgesamt zu wenige.

MiC: Sie verlangen eine Distanzierung von den Taten der Hamas und vom Antisemitismus und zugleich die Hinnahme der israelischen Kriegsverbrechen im Gaza. Die scheinbar bedingungslosen Bekenntnisse zu und die Unterstützung von Israel seitens der Bundesregierung und der Parteien in Bundestag und Länderparlamenten können als Hinnahme, wenn nicht gar Entschuldigung der israelischen Kriegsverbrechen gedeutet werden. Welches Signal sendet die Politik damit?

HABECK: Die hier lebenden Muslime haben Anspruch auf Schutz vor rechtsextremer Gewalt – zurecht. Wenn sie angegriffen werden, muss dieser Anspruch eingelöst werden und das gleiche müssen sie jetzt einlösen, wenn Jüdinnen und Juden angegriffen werden. Sie müssen sich klipp und klar von Antisemitismus distanzieren, um nicht ihren eigenen Anspruch auf Toleranz zu unterlaufen. Für religiöse Intoleranz ist in Deutschland kein Platz. Wer hier lebt, lebt hier nach den Regeln dieses Landes. Und wer hierherkommt, muss wissen, dass das so ist und so auch durchgesetzt werden wird.

MiC: Das Aufkommen eines nationalen, fremdenfeindlichen Populismus’ in Deutschland (wie überall im Westen) ist die unmittelbare Folge der Politik der bürgerlichen Parteien der letzten 30 Jahre. Insbesondere seit der Finanzkrise 2008/09, die nicht zu den notwendigen strukturellen Veränderungen geführt hat, sondern nur zu einer Stützung des Finanzsystems durch eine hemmungslose Geldmengenpolitik. Hinzukommen jüngst die Inflation und die bedenkliche Energieversorgungssituation dank der Sanktionspolitik Ihrer Bundesregierung. Ein Übriges leistet die verlogene Migrantendebatte, in der die Rechten und die Medien für Stimmung sorgen und wehrlose „neue Sündenböcke“ schaffen.

Das Prinzip der primitiven Schuldbezichtigung von Minderheiten gilt hierzulande unverändert. Das ist der wahre Skandal.

LINK: Migration und die Fakten …

HABECK: Unsere Verfassung schützt und gibt Rechte, sie legt aber auch Pflichten auf, die von jedem und jeder erfüllt werden müssen. Beides kann man nicht voneinander trennen. Toleranz kann an dieser Stelle keine Intoleranz vertragen. Das ist der Kern unseres Zusammenlebens in dieser Republik.

MiC: Sie führen wieder eine Selbstverständlichkeit an, der jeder zustimmt, die im Alltag anders aussieht. Intoleranz steht immer in Beziehung zu Abgrenzung, Ausgrenzung und empfundener Bedrohung. Der von Ihnen genannte Kern unseres Zusammenlebens wird im politischen Diskurs unterminiert. Das Trennende aus Sicht vieler überwiegt gegenüber dem Verbindenden.

HABECK: Das heißt: Das Verbrennen von israelischen Fahnen ist eine Straftat, das Preisen des Terrors der Hamas auch. Wer Deutscher ist, wird sich dafür vor Gericht verantworten müssen, wer kein Deutscher ist, riskiert außerdem seinen Aufenthaltsstatus. Wer noch keinen Aufenthaltstitel hat, liefert einen Grund, abgeschoben zu werden.

MiC: Am Rande, in welcher Relation stehen die beiden angeführten Straftaten zum möglichen Strafmaß? Die Integration von Einwanderern wird auf die Kommunen abgewälzt, eine dem Ausmaß der legalen Zuwanderung und der durch Kriege geschaffenen Migration gemäße Politik fehlt seit Jahrzehnten. Sie stellen Forderungen und Drohen mit Strafen und vergessen dabei, die Versäumnisse der Vergangenheit auszusprechen und tragfähige Lösungen mit den Betroffenen anzugehen. Sie erwähnen diese Punkte nicht einmal.

HABECK: Der islamistische Antisemitismus darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir auch in Deutschland einen verfestigten Antisemitismus haben: Nur, dass die Rechtsextremen sich gerade aus rein taktischen Gründen zurückhalten, um gegen Muslime hetzen zu können. Die Relativierung des Zweiten Weltkriegs, des Nazi-Regimes als ,Fliegenschiss‘ ist nicht nur eine Relativierung des Holocaust, sie ist ein Schlag ins Gesicht der Opfer und Überlebenden.

MiC: Der deutsche Antisemitismus ist unerträglich. Er besteht trotz Entnazifizierung und einer breiten Aufarbeitung der deutschen Verbrechen der Nazizeit. Fragt sich, warum das so ist? Warum sind Ressentiments stärker als Tatsachen? Müssen wir akzeptieren, dass bis zu 20% der Bevölkerung antisemitische Auffassungen hegen? Wie können Politik und die Mehrheit der Bevölkerung dem entgegenwirken? Vielleicht mit einem besseren Bildungsangebot? In unserer immer stärker entsolidarisierten, polarisierten Gesellschaft helfen Appelle und Verbote offenbar nur begrenzt. Eine sachliche, öffentliche Auseinandersetzung mit den Ursachen ist nötig.

HABECK: Alle, die hinhören, können und müssen das wissen. Der Zweite Weltkrieg war ein Vernichtungskrieg gegen Juden. Für das Naziregime war die Vernichtung des europäischen Judentums das Hauptziel. Und weil unter den Rechtsextremen so manche Putin Freunde sind: Putin lässt sich mit Vertretern der Hamas und der iranischen Regierung fotografieren und bedauert die zivilen Opfer im Gazastreifen, während er zivile Opfer in der Ukraine schafft. Seine Freunde in Deutschland, sie sind gewiss keine Freunde der Jüdinnen und Juden.

MiC: Der Zweite Weltkrieg war ein Kolonialkrieg für „deutschen Lebensraum“ im Osten. Die Ideologie der Nazis beruhte auf der angeblichen Überlegenheit einer „Herrenrasse“, die das Recht des Stärkeren hätte, andere sogenannte „minderwertigen Rassen“, zu denen sie Juden, Slawen, Schwarze und Inder, Sinti und Roma etc. zählten, zu verdrängen. Die Vernichtung der Juden war ein Ziel der Nazis. Sie wurden von Hitler und Gefolge als Verursacher allen Übels stigmatisiert, verfolgt, beraubt, interniert, zur Sklavenarbeit gezwungen und in den Vernichtungslagern systematisch ermordet.

6 Millionen Tote sind ein katastrophales Verbrechen.

Die russische und ukrainische Bevölkerung in der Sowjetunion war ebenfalls Opfer des NS-Lebensraumkrieges. Es sind ca. 15 Millionen tote Zivilisten der ehemaligen Sowjetunion zu beklagen. Die deutsche Schuld gilt auch für diese Menschen. Wie halten Sie es damit, Herr Habeck?

Es ist eine billige Polemik, Putin und den Ukrainekrieg in einen Zusammenhang mit Israels Krieg gegen die Palästinenser zu stellen, nur um den russischen Präsidenten indirekt des Antisemitismus‘ zu bezichtigen. Inwieweit dieses Etikett auf Putin zutrifft, vermag ich nicht zu sagen. Legt man die offiziellen gemeldeten Zahlen zugrunde, so starben in dem vier Wochen währenden Krieg von Israel gegen Hamas mehr Zivilisten als in dem nunmehr 20 Monate währenden Ukrainekrieg.

LINK: Die Zahlen der getöteten Palästinenser seit Beginn der Kämpfe (in englischer Sprache) …

https://www.yenisafak.com/en/news/civilian-deaths-in-one-month-of-israeli-attacks-on-gaza-top-entire-russia-ukraine-war-toll-3673081

Sie empören sich über den vom Westen zum „neuen Hitler“ stilisierten russischen Präsidenten, der „täglich neue zivile Opfer in der Ukraine schafft“, ohne die Tötungspolitik von Netanyahus Regierung in Gaza anzuprangern?

Wuchteln im Springer-Kosmos: parteiisch, befangen und unbelehrbar

Auch wenn es Ihnen nicht gefällt, Herr Habeck: Der Ukrainekrieg ist eine unmittelbare Folge der NATO-Osterweiterung. Das „Verteidigungsbündnis“ hat den Krieg nicht nur bewusst in Kauf genommen, wie wir seit Merkels Aussage zu den wahren Motiven hinter den Minsk-Vereinbarungen wissen, sondern die Ukraine bewusst aufgerüstet und militärisch nach NATO-Standards ausgebildet, um sie in ihre Struktur zu integrieren. Die USA hat im Vorfeld jeden diplomatischen Vorstoß Russlands abgelehnt. (Trotzdem verurteile ich den Angriffskrieg Russlands und halte ihn für illegal.)

Der Krieg hätte also vermieden werden können, wie auch Sie wissen, und noch im April 2022 wäre eine Friedensregelung, der auch Selenski generell zugestimmt hatte, möglich gewesen. Die USA und die NATO haben anders entschieden. Warum? Etwa um den globalen Zielen des Westens zu dienen? Warum unterstützen Sie eigentlich wirklich diesen Krieg und die deutsche Aufrüstung, Herr Habeck? Welche Verantwortung trägt die Bundesregierung damit an dem Leid in der Ukraine?

Es ist übrigens sehr verwunderlich, dass der massive Einfluss von Faschisten und Neonazis in der ukrainischen Regierung und im Militär, das offene Preisen von Nazikollaborateur Bandera und seiner ONU von der Bundesregierung und den Systemmedien heruntergespielt wird. Dabei entspricht deren Ideologie der von Hitler und Co., den Verursachern des Holocausts an den Juden. Wie halten Sie diesen Widerspruch aus?

HABECK: Sorge macht mir aber auch der Antisemitismus in Teilen der politischen Linken und zwar leider auch bei jungen Aktivistinnen und Aktivisten. Antikolonialismus darf nicht zu Antisemitismus führen. Insofern sollte dieser Teil der politischen Linken seine Argumente überprüfen und der großen Widerstandserzählung misstrauen. Das ,beide Seiten‘-Argument führt hier in die Irre. Die Hamas ist eine mordende Terrorgruppe, die für die Auslöschung des Staates Israels und den Tod aller Juden kämpft. Die Klarheit, mit der das wiederum z. B. die deutsche Sektion von Fridays For Future auch in Abgrenzung zu ihren internationalen Freunden konstatiert hat, die wiederum ist mehr als respektabel.

MiC: Exakt, Antikolonialismus darf nicht zu Antisemitismus führen. Die Linke soll sich also darauf beschränken, den Siedlerkolonialstaat anzuprangern, ja? Absolut einverstanden. Ist Israel in Ihren Augen dann ein Siedlerkolonialstaat in dem Apartheid herrscht? Wenn ja, was bedeutet das für ihr Handeln? Wieso fällt dazu in Ihrer Rede kein Wort?

Sie brandmarken die Hamas und bestreiten jede Bereitschaft zu Verhandlungen, dabei hat Hamas nicht nur Verhandlungen wegen der Geiseln angeboten, sondern sogar Geiseln freigelassen. Natürlich ist das eine taktische Maßnahme. Denn Israel will nicht verhandeln, schließlich sind die Bewohner des Gazastreifens „Tiere“. Israel bombardiert den Gazastreifen trotz der Geiseln. Es ist Ihr „Einseiten-Argument“, Herr Habeck, das in die Irre führt.

Andere Staatsmänner haben eine konstruktive Haltung. Der ehemalige Präsident Jimmy Carter forderte den Westen auf, die von den USA als terroristisch eingestufte Hamas als legitimen „politischen Akteur“ anzuerkennen, der einen großen Teil der palästinensischen Bevölkerung vertritt (und außerdem die freien und fairen Wahlen 2007 im Gazastreifen gewonnen hat).

LINK: Carters Appell (in englischer Sprache)

https://eu.usatoday.com/story/news/world/2014/08/05/carter-israel-hamas/13640905/

HABECK: Ja, das Leben in Gaza ist Leben in Perspektivlosigkeit und Armut. Ja, die Siedlerbewegung in der Westbank schürt Unfrieden und nimmt Palästinensern Hoffnung und Rechte und zunehmend auch Leben. Und das Leid der Zivilbevölkerung jetzt im Krieg ist eine Tatsache, eine fürchterliche Tatsache. Jedes tote Kind ist eines zu viel. Auch ich fordere humanitäre Lieferungen, setze mich dafür ein, dass Wasser, Medikamente, Hilfsgüter nach Gaza kommen, dass die Flüchtlinge geschützt werden.

MiC: Die Zustände in Gaza und dem Westjordanland sind beabsichtigte Konsequenzen der Politik Netanyahus seit 1996. Es ist ein Krieg ums Land. Das Ziel ist die ethnische Säuberung, Herr Habeck!

Der vorgenannte Yeshayahu Leibowitz warnte bereits Ende der 1960-er Jahre davor, dass der Staat Israel und der Zionismus „heiliger“ geworden seien als jüdisch-humanistische Werte. Er bezeichnete das israelische Verhalten in den besetzten palästinensischen Gebieten als „jüdisch-nazistisch“ und wies auf die entmenschlichenden Auswirkungen der Besatzung auf die Opfer und die Unterdrücker hin.

Genau das ist eingetreten.

Das, was sie als fürchterliche Tatsache bezeichnen, Herr Habeck, ist eine bewusste militärische Strategie Israels, die Sie mit Ihrer Haltung unterstützen. Ihre Appelle muten hohl an. Humanitäre Lieferungen beenden weder Bombenterror noch Krieg, sondern rechtfertigen deren Fortsetzung. Wenn Ihnen die Opfer wirklich am Herzen lägen, dann würden Sie nichts unversucht lassen, um einen Waffenstillstand herbeizuführen und anschließend ernsthafte Verhandlungen zu einer dauerhaften Friedenslösung voranzutreiben. Das wäre die Pflicht der deutschen Außenpolitik!

LINK: Bombenkrieg, Einstaaten-Lösung, ethnische Säuberungspläne …

HABECK: Zusammen mit unseren amerikanischen Freunden machen wir Israel immer wieder deutlich, dass der Schutz der Zivilbevölkerung zentral ist. Der Tod und das Leid, das jetzt über die Menschen im Gazastreifen kommt, sind schlimm. Das zu sagen, ist so notwendig wie legitim. Systematische Gewalt gegen Jüdinnen und Juden aber kann damit dennoch nicht legitimiert werden. Antisemitismus kann damit nicht gerechtfertigt werden. Natürlich muss sich Israel an das Völkerrecht und internationale Standards halten. Aber der Unterschied ist: Wer würde solche Erwartung je an die Hamas formulieren?

MiC: Gemeinsam ist Ihnen und Ihren amerikanischen Freunden die Augenwischerei, die Sie mit Ihrer angeblichen Deutlichkeit betreiben: Presseerklärungen und Taten stehen im krassen Widerspruch zueinander. Nehmen Sie sich ein Beispiel an US-Präsident Ronald Reagan, ein Kalter Krieger par excellence, der 1982 den damaligen israelischen Ministerpräsidenten Menachem Begin mit einem Telefonanruf davon überzeugte, das Bombardement der Zivilbevölkerung in Beirut zu beenden. 15 Minuten später meldete Begin Vollzug.

Biden, der Reagan in nichts nachsteht, soll dazu nicht in der Lage sein? Er ist nicht willens dazu. Als braver Vasall weicht die Bundesregierung dem amerikanischen Freund nicht von der Seite. Of course not! Atta boy.

Die Einhaltung von Völkerrecht und internationalen Standards – die Israel seit Jahrzehnten systematisch ignoriert und missachtet – kann jeder Mensch, der ernsthaft Frieden will, selbstverständlich an Hamas stellen. Die Rhetorik der Hamas entspricht wortgetreu der Rhetorik der radikalen Zionisten, insbesondere die der Siedler. Beide Gruppen fordern, das Land zwischen Jordan und Mittelmeer müssen vom anderen Volk „frei sein“. Zwei unvereinbare und zugleich unhaltbare Extrempositionen.

Die Politik von Hamas ist da offensichtlich differenzierter:

„Schlüsselpunkte in der politischen Entwicklung der Hamas nach den Wahlen waren das Hamas-Regierungsprogramm von 2006, das Mekka-Abkommen von 2007 und das Strategiepapier der Hamas von 2017. Letzteres ermöglichte es der Hamas, ihre Positionen zur Anerkennung des israelischen Staates und zur Zweistaatenlösung zu modulieren, von Positionen, die diese Fragen ablehnten, zu Positionen, die sie bedingt akzeptierten.“ (Dr. Martin Kear in einer Analyse von 2021, siehe Link)

Der politische Arm, den Israel und der Westen boykottieren agiert politisch. Weshalb soll man mit denen nicht reden können? Der Nordirland-Konflikt wurde auch durch Verhandlungen mit politischen Vertretern der IRA gelöst. Wenn Sie Hamas jegliche Menschlichkeit und damit jede Verhandlungsfähigkeit absprechen, Herr Habeck, wie stehen Sie dann zu den radikalen Zionisten und den Siedlern?

LINK: Hamas veränderte Haltung zur Zwei-Staaten-Lösung, Dr. Martin Kear (in englischer Sprache) …

LINK: Hamas und die Zwei-Staaten-Lösung (in englischer Sprache)

https://nationalinterest.org/blog/paul-pillar/hamas-the-two-state-solution-7779

HABECK: Und weil ich kürzlich im Ausland damit konfrontiert wurde, wie der Angriff auf Israel am 7. Oktober als – Zitat – ,unglücklicher Vorfall‘ verharmlost wurde, ja sogar die Fakten infrage gestellt wurden, noch einmal hier in Erinnerung gerufen: Es war die Hamas, die Kinder, Eltern, Großeltern in ihren Häusern bestialisch ermordet hat. Deren Kämpfer Leichen verstümmelt haben, Menschen entführt und lachend der öffentlichen Demütigung ausgesetzt haben. Es sind Berichte des schieren Horrors – und dennoch wird die Hamas als Freiheitsbewegung gefeiert? Das ist eine Verkehrung der Tatsachen, die wir nicht stehen lassen können.

MiC: Sie empören sich über die Angriffe des militärischen Arms der Hamas und bestreiten, sie sei eine Freiheitsbewegung. Die Angriffe vom 07. Oktober sind unmissverständlich zu verurteilen, Sie aber verkürzen bewusst, Herr Habeck. Der politische Arm der Hamas gewann vor 17 Jahren eine Wahl in Gaza, woraufhin der Westen Hamas boykottierte und Israel die Gaza-Blockade begann. Ferner hat Israel Hamas über Jahrzehnte gefördert und als Feind aufgepumpt, weil das nach Netanyahus Logik, zuletzt 2019 vor Likud-Fraktionsmitgliedern artikuliert, das beste Mittel sei, um einen palästinensischen Staat zu verhindern.

Die Hamas-Angriffe waren in Heftigkeit und Folgenschwere nicht erwartet, doch erfüllen sie genau den Zweck den Netanyahus „faschistische Regierung“ (lt. Knesset-Abgeordnetem Ofer Cassif) beabsichtigt. Die Abriegelung Gazas und die Bombenangriffe auf die Zivilbevölkerung sind die Tatsachen, Herr Habeck, und dazu schwerste Verstöße gegen das Kriegsrecht, deren Opfer zu 70% Frauen und Kinder sind. Das allein müsste Sie und Ihre KollegenInnen empören!

Craig Mokhiber, Direktor des New Yorker Büros des UN-Hochkommissars für Menschenrechte, legte aus Protest gegen Israels Krieg in Gaza und der Tatenlosigkeit der UN sein Amt nieder. In seinem Rücktrittsschreiben nimmt er kein Blatt vor den Mund:

„Dies ist ein Völkermord wie aus dem Lehrbuch. Das europäische, ethno-nationalistische, koloniale Siedlerprojekt in Palästina ist in seine letzte Phase eingetreten, in der es um die beschleunigte Zerstörung der letzten Überreste einheimischen palästinensischen Lebens in Palästina geht. Mehr noch, die Regierungen der Vereinigten Staaten, des Vereinigten Königreichs und eines Großteils Europas sind an diesem schrecklichen Angriff beteiligt. Diese Regierungen weigern sich nicht nur, ihren vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen, ,die Einhaltung‘ der Genfer Konventionen zu gewährleisten, sondern sie bewaffnen den Angreifer aktiv, unterstützen ihn wirtschaftlich und nachrichtendienstlich und geben Israels Gräueltaten politische und diplomatische Deckung.“

LINK: Rücktrittsschreiben von Craig Mokhiber, Mitarbeiter im UN-Hochkommisar für Menschenrechte

HABECK: Und das bringt mich zum letzten Punkt: Der Angriff auf Israel erfolgt in einer Phase der Annäherung mehrerer muslimischer Staaten an Israel. Es gibt die Abraham-Abkommen zwischen Israel und muslimischen Staaten der Region. Jordanien und Israel arbeiten in einem großen Trinkwasserprojekt zusammen. Saudi-Arabien war auf dem Weg, seine Beziehung zu Israel zu normalisieren. Aber ein friedliches Miteinander von Israel und seinen Nachbarn, von Juden und Muslimen, die Perspektive einer Zwei-Staaten-Lösung – all das wollen die Hamas und ihre Unterstützer, insbesondere die iranische Regierung, nicht. Sie wollen es zerstören.

MiC: Die Abraham-Abkommen sind der Versuch einer Koalitionsbildung gegen den Iran und dessen Verbündete. Die Palästinenserfrage spielt in den Abkommen keine Rolle. Im Gegenteil, sie wurde ausgeblendet. Das ist im Sinne Israels, welches die Beziehungen mit seinen Nachbarn normalisieren kann und dadurch die ohnehin halbherzige Unterstützung der Palästinenser in der arabischen Welt weiter unterhöhlt. Nur kann es im Nahen Osten keine normalen Beziehungen zwischen Israel und der arabischen Welt (einschließlich dem Iran) geben, wenn die Palästinenser nicht zu ihrem Recht kommen. Die Zerstörungsabsicht, die Sie Hamas unterstellen, Herr Habeck, ist der Versuch mit militärischen Mitteln, die zentrale Problematik wieder ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Die Abraham-Abkommen sind dafür ein Hindernis, das bedeutet nicht, sie aufzukündigen, vielmehr sie zu erweitern, um eine Friedenslösung mit den Palästinensern und – und das ist unumgänglich – mit dem Iran. Frage ist, ob das im Interesse der bisherigen Vertragsparteien liegt.

LINK: Die ernüchternde Wahrheit über die Abraham-Abkommen (in englischer Sprache)

FAZIT

Was hätte Sie sagen können, wenn nicht sagen müssen, Herr Habeck:

Die Bundesrepublik Deutschland steht aufgrund der deutschen Schuld für den Holocaust an den Juden in einer historischen Verantwortung dem jüdischen Volk gegenüber. Sein Existenzrecht und auch seine Sicherheit sind zentrale Werte unseres staatlichen Selbstverständnisses. Ebenso sind das Existenzrecht und die Sicherheit der Palästinenser sowie aller anderen Völker zentrale Werte unseres staatlichen Selbstverständnisse. Die entscheidende Lehre des Holocausts heißt: Nie wieder!

Darum stehen wir fest gegen jede Form von Antisemitismus.

Die entscheidende Lehre des Holocausts bezieht sich aber ausdrücklich auf alle Menschen, auf alle Minderheiten und alle Verfolgte und das weltweit. Sonst wäre sie keine Lehre unserer Geschichte.

Der Staat Israel betreibt eine Apartheidspolitik gegen die Palästinenser, die mit unseren Werten nicht vereinbar ist. Als Teil der Weltgemeinschaft schließen wir uns der allgemeinen Überzeugung an, dass beide Völker ein Existenzrecht in dem Land zwischen Jordan und Mittelmeer haben. Darum setzen wir uns für einen sofortigen Waffenstillstand ein, engagieren uns für humanitäre Hilfe und stehen beiden Konfliktparteien als Vermittler zur Verfügung. Die Waffen müssen schweigen! Sofort!

Es liegt im Interesse der Bundesrepublik Deutschland und der EU, ja der ganzen Welt, dass im Nahen Osten eine der größten Hürden für ein friedliches Miteinander endlich überwunden wird.

Wir glauben, dass ein Frieden möglich ist und dass die Mehrheit der Israelis und der Palästinenser gleichberechtigt in Frieden und Freiheit leben wollen.

Wir rufen unsere jüdischen und muslimischen Mitbürger auf, einander die Hände zu reichen und gemeinsam dem Friedenswillen lautstark und nachdrücklich Ausdruck zu verleihen.

Gerade jetzt ist die Solidarität und Unterstützung aller Bürgerinnen und Bürger und aller Parteien in dieser existenziellen Frage von Krieg und Frieden, von Leben und Tod gefordert.“

Nun frage ich Sie, Herr Habeck, ob Sie als deutscher Politiker so etwas überhaupt sagen dürfen? Bestimmt ist der Text Ihren Beratern zu naiv und nicht realpolitisch genug, was?

Vor allem aber geht er nicht konform mit dem großen amerikanischen Bruder und dessen Geschäftsmodell Krieg – und genau das ist die Crux.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert